Ich denke, es ist an der Zeit, mal wieder mit HS auf Fototour zu gehen. Dabei will ich aber gar nicht weit in die Ferne schweifen, sondern erst einmal dort bleiben, wo alles begann: In Hattingen (Ruhr), wo HS nach dem Krieg aufwuchs und wo sich schon in jungen Jahren seine Begeisterung für die große Eisenbahn entwickelte.
Hattingen, das ist den jüngeren Eisenbahnfreunden wohl nur noch als Endpunkt der S-Bahn Linie S3 im VRR bekannt. Dabei war hier früher eisenbahnmäßig eine Menge los. Die Henrichshütte, das große Stahlwerk mit zeitweise bis zu 10.000 Beschäftigten, sorgte für ein beträchtliches Verkehrsaufkommen sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr. Die heute noch aktive Firma Reuschling hatte als Reparaturberieb für Privat- und Werkbahnlokomotiven überregionale Bedeutung. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die auf halbem Weg nach Bochum-Dahlhausen gelegene Zeche "Dahlhauser Tiefbau". Und nicht zu vergessen: Neben der Versorgung der diversen Industriebetriebe hatte die Bahn in den 50er und 60er Jahren noch eine wichtige Funktion in der Bedienung der Fläche. So gelangte man von Hattingen aus in Richtung Westen über Bochum-Dahlhausen nach Essen-Kupferdreh und Essen Hbf, zur anderen Seite ging's über Blankenstein und Oberwengern nach Hagen (Westf.). Und in Richtung Süden gab es eine Bahnverbindung nach Wuppertal. Zur Abwicklung all der sich daraus ergebenden Verkehrsaufgaben gab es in Hattingen einen stattlichen Personenbahnhof mit vier Bahnsteiggleisen, einen großen Rangierbahnhof und sogar ein Bahnbetriebswerk mit 16-ständigem Lokschuppen, das allerdings bereits 1949 stillgelegt wurde.
Im heutigen Beitrag wollen wir uns, sozusagen zum Aufwärmen, mit der Nebenstrecke von Hattingen über Sprockhövel nach Wuppertal-Wichlinghausen befassen, die heute schon lange stillgelegt und vielfach in Vergessenheit geraten ist. Diese Strecke ist auch für mich mit Jugenderinnerungen verbunden, bin ich doch genau am anderen Ende, in Wuppertal, aufgewachsen. Den Mittagszug aus Hattingen habe ich auf dem Schulweg oft gesehen, zuerst als letzte VT36.5 Leistung der DB, später als letzte Leistung der Vohwinkler 78 - nur zum Fotografieren war ich leider noch zu jung. Auch bei HS gehören die Bilder aus diesem Beitrag z.T. zu den ältesten in seiner Sammlung - da nimmt man kleinere fotografische Mängel gerne in Kauf.
Bild 1
Leider kein VT36.5, sondern "nur" ein relativ neuer VT95 macht den Anfang.
VT95 9475 wurde am 21.05.54 fabrikneu dem Bw Wuppertal Steinbeck zugeteilt. Gut zwei Jahre später, im Sept. 1956, steht er auf der Südseite des Bahnhofs Hattingen zur Fahrt nach Wuppertal bereit. Dem Sonnenstand nach muss es sich um einen der drei Nachmittagszüge handeln, die zwischen 15:30 und 17:00 Uhr die Werktätigen aus den Hattinger Industriebetrieben ins Umland nach Hause brachten.
Bild 2
Auf der Wuppertaler Strecke waren aber nicht nur Triebwagen, sondern auch lokbespannte Züge unterwegs. Am 15.10.60 waren es sogar gleich zwei Dampfer, die HS kurz hinter dem Bahnhof Hattingen aufnehmen konnte.
78 139 und
86 873,
beide vom Bw Vohwinkel bzw. Langerfeld, gehen nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof mit Volldampf in die sich direkt anschließende Steigung. Ob dieser Zug, auch wenn man ihn nicht in ganzer Länge sieht, wirklich zwei Lokomotiven benötigte, ist zu bezweifeln. Wahrscheinlich war es nur ein Leervorspann, bei dem ausnahmsweise die vorne laufende 78 die planmäßige Zuglok war. Eine 86 jedenfalls hat HS sonst nie wieder in Hattingen gesehen.
Das tiefer liegende Gleis im Vordergrund ist übrigens das Ausziehgleis für den Ablaufberg (Südberg) im Rbf Hattingen. Und genau hier verlässt heute die 500 m lange "Neubaustrecke" der S-Bahn nach Hattingen Mitte die Trasse der alten Strecke nach Wuppertal.
Bild 3
Na ja, auch mit ein wenig Gestrüpp vor der Lok ist das Bild sicher sehenswert.
78 430 (Bw Vohwinkel) passiert am 11.04.59 auf ihrem Weg nach Wuppertal den BÜ Eickener Straße in Hattingen Reschop. Das Signal im Vordergrund ist das Einfahrsignal nach Hattingen. Abteilwagen waren zwar damals noch allgegenwärtig im Nahverkehr der DB, aber aus heutiger Sicht wirken sie doch schon recht antiquiert.
Bild 4
Nur drei Tage später und ein paar Meter weiter (die Schranken des BÜs vom letzten Bild sind im Hintergrund noch schwach zu erkennen) entstand am 14.04.59 das Bild der Vohwinkler
50 074, am Haken eine ähnliche, herrlich anzusehende Wagengarnitur wie oben die 78.
Ach, nur eine 50er, eine Allerwelts-Lok, wird HS sich gedacht haben. Und auch eine 50 mit Schürze war damals nicht wirklich etwas Besonderes. Weitere Bauartmerkmale: Die Lok ist bereits mit einem ÜK-Kessel ausgerüstet und besitzt noch einen weiten Schornstein ohne Aufsatz.
Bild 5
Im Südwesten des Hattinger Stadtgebiets überquerte die Strecke auf einem kleinen, dreibogigen Viadukt die Nierenhofer Straße, über die bis 12.53 die Straßenbahn nach Wuppertal Elberfeld verkehrte (Linie 7). Unmittelbar davor sehen wir, ebenfalls am 14.04.59, die
78 139 (WtV) mit einer inzwischen schon gewohnten Wagengarnitur aus Abteilwagen mit einem Zug nach Wuppertal-Wichlinghausen (und Oberbarmen?). Während es damals noch recht ländlich an dieser Stelle aussah, liegt hier heute beidseits der ehemaligen Strecke dicht bebautes Industriegebiet.
Bild 6
Noch ein wenig weiter in Richtung Hattingen Stadtwald und von der Außenkurvenseite fotografiert:
57 3465 vom Bw Bochum-Dahlhausen mit einem Güterzug nach Sprockhövel/Wuppertal. Das freie Feld hinter der Lok ist heute dicht mit Wohnhäusern bebaut. Hattingen, Sommer 1956.
Bild 7
Direkt hinter dem Haltepunkt Hattingen-Stadtwald tauchte die Strecke mit dem 195m kurzen Schulenbergtunnel unter einem kleinen Höhenzug hindurch. Aus dem Südportal dieses Tunnels heraus dampft hier die Vohwinkler
50 2358; wieder eine 50er mit Schürze, diese sogar noch mit Zentralverschluss und ohne drittes Spitzenlicht. Die Inschrift über dem Tunnelportal weist darauf hin, dass der Tunnel 1883 fertiggestellt wurde. Die gesamte Strecke wurde laut Wikipedia am 20. Mai 1884 in Betrieb genommen. Aufnahme Oktober 1956.
Bild 8
Der heutige Bilderbogen endet, wie er begonnen hat: mit einem "Knötterich", einem Schienenbus der Baureihe
VT95.9. Die Betriebsnummer ist zwar nicht bekannt, aber die Dachfenster weisen darauf hin, dass wir es hier mit einem Triebwagen aus der ersten Bauserie zu tun haben, von der das Bw Wuppertal-Steinbeck die Fahrzeuge VT95 9163 - 9167 im Bestand hatte. Die Aufnahme entstand im Sommer 1956 und ist im beachtlichen Fotobestand von HS insofern etwas Besonderes, als es für ihn das
erste (brauchbare) Bild eines Eisenbahnfahrzeugs markiert.
Hinzuweisen ist noch auf den in den beiden letzten Bildern deutlich zu erkennenden Stuhlschienenoberbau. Bei diesem wird die Schiene zwischen den beidseitigen Schienenstühlen nur mit einem Holzklotz verkeilt. Möglicherweise hat man diese altertümliche Bauart im Tunnel verwendet, um im Bedarfsfall die Schienen schnell austauschen zu können.
Damit möchte ich unseren heutigen Ausflug mit HS beenden. Ich denke, auch ohne "die ganz großen Knaller" bei den gezeigten Fahrzeugen dürfte die Faszination dieser wirklich historischen Aufnahmen vermittelt worden sein. Herbert und ich freuen uns schon auf weiterführende Ergänzungen und "sachdienliche Hinweise". Und sicher besteht Interesse, die kleine Serie mit weiteren Bildern von der mittleren Ruhrtalbahn und dem Bw Dahlhausen fortzusetzen.
Einen schönen Tag noch,
Ulrich B.
Edit: Text zu Bild 2 nach Ergänzung von "03 1008" verbessert.
2-mal bearbeitet. Zuletzt am 2014:09:29:22:28:37.