Eigentlich ist ja Ludger an diesem Beitrag schuld, in dem ich mich nun nach jahrelangem Konsum und einer gelegentlichen Antwort auf Beiträge Anderer erstmals selbst zum Verfasser aufschwinge. Bei der Durchsicht des neuen Buches über die Usedomer Bäderbahn (UBB) wurde ich mit der Nase auf das Datum 30.11.1990 gestoßen, denn dieser Termin wird auch dort wieder für den letztmalig durchgeführten Güter- und Gütertrajektverkehr auf der Insel Usedom genannt. Gleichzeitig fiel mir auf, dass ich noch nirgendwo veröffentlichte Fotos davon gesehen habe. Dabei war ich seinerzeit selbst vor Ort und kann nun auf diesem Wege vielleicht den einen oder anderen erfreuen.
Erinnern wir uns: Das aufregende Jahr 1990 näherte sich langsam dem Ende, Deutschland war größer geworden und der Begriff „neue Bundesländer“ etablierte sich für die vor knapp 8 Wochen Beigetretenen. Man bezahlte im neuen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern jetzt mit D-Mark, wobei es bei den Hartgeld-Pfennigmünzen noch eine Fristverlängerung für die „Alu-Chips“ gab. Die Deutsche Reichsbahn war immernoch eine Institution und brach zu einem neuen Selbstverständnis auf, hatte allerdings bereits mit größeren Einbrüchen im Güterverkehrs-Aufkommen zu kämpfen, was man an vielen und überall abgestellten Güterwagen erahnen konnte.
Irgendwer hatte mir geflüstert, dass am Morgen des 30.11.1990 der letzte Güterzug auf der Insel Usedom verkehren würde und zum letzten Male Güterwagen von Wolgaster Fähre zum Wolgaster Hafen trajektiert werden sollten; in Eisenbahndeutsch: Einstellung des Wagenladungsverkehrs Wolgaster Fähre – Seebad Ahlbeck. Nun war und ist Usedom nicht unbedingt mein Heimatrevier, jedoch wollte ich mir dieses denkwürdige Ereignis nicht entgehen lassen und nahm einen Tag Urlaub. Denn überhaupt stand es um die Inselbahn nicht gut, man hörte immer wieder gerüchteweise von Einstellungsplänen. Fotos zu machen, schien also angeraten. Von der Usedomer Bäderbahn, die den Insel-Schienenverkehr ein paar Jahre später gehörig umkrempeln sollte, war noch nichts zu ahnen.
Die mir inzwischen entfallene Informationsquelle muss so zuverlässig gewesen sein, dass ich mich an jenem Freitag ein paar Stunden früher als sonst aus dem Bett wälzte, das Auto bestieg und schließlich noch bei völliger Dunkelheit Wolgast erreichte. Hier vertrat ich mir erst einmal ein wenig die Füße an der 40 Jahre zuvor errichteten „Brücke der Freundschaft“ über die Peene zur Insel Usedom.
Es war lausekalt, ungemütlich und stürmisch, recht schnell kamen Mütze, Schal und Handschuhe zum Einsatz. Am inselseitigen Fähranleger konnte man an diesem Morgen -wie meist- das Fährschiff „Stralsund“ liegen sehen. Es war beleuchtet und wegen des seit Mitte der 1980er Jahre bestehenden Schadens an der Dampfmaschine mit einem Schlepper vertäut. Also lief ich zunächst ein paar Meter über die Peene-Brücke, um eine Nachtaufnahme des Fährschiffs zu versuchen.
Bild 1: Das 1890 für die Fährlinie Stralsund-Altefähr gebaute und seit den 1940er Jahren im Trajektverkehr von Wolgast zur Insel Usedom eingesetzte Dampffährschiff „Stralsund“ mit dem steuerbord heckseitig vertäuten Schlepper. Am Himmel zeigen sich erste Spuren des Morgens, ansonsten ist es rauh und stürmisch über der Peene und dem damals 100-jährigen Fährschiff.
Nirgends war in dieser widrigen Witterung eine Menschenseele auszumachen, so dass ich mich zum Bahnhof Wolgaster Fähre begab. Dort stellte ich erschrocken fest, dass bereits einige Güterwagen am südlichen Bahnsteig standen. Sollte der letzte Güterzug etwa schon gefahren sein? Ich entschloß mich, zu warten und fotografierte derweil die 110 126 mit ihrem Personenzug. Einen Fahrplan für den Güterzug hatte ich nicht.
Bild 2: 110 126 steht mit ihrem Zug aus 4-achsigen Rekowagen der Gattung Bghw am nördlichen Bahnsteig in Wolgaster Fähre. Ob das Licht im ersten Wagen defekt war? Der schmale Leuchtstreifen links im Hintergrund stammt vom Autoverkehr über die „Brücke der Freundschaft“ in Richtung Insel Usedom. Die Lok wurde 1994 z-gestellt und ausgemustert, gelangte aber danach doch noch zu verschiedenen privaten EVU.
Nach der Abfahrt des Zuges war es in Wolgaster Fähre lok- und menschenleer. Ohne Lokomotive konnte der abgestellte Güterzug natürlich auch nicht aufs Fährschiff rangiert werden. Es mußte also auf jeden Fall eine Lok kommen, bevor es weiterging. Meine Hoffnung war, dass hinter dieser auch noch Güterwagen hängen würden. Ich beschloß also, diesem letzten Güterzug entgegenzufahren, es war ja sowieso noch stockdunkel, und begab mich zunächst nach Zinnowitz.
Bild 3: Da stand er nun tatsächlich, der letzte Güterzug der Insel Usedom! Man war wohl sehr früh aufgebrochen und trank gerade beim Fahrdienstleiter in Zinnowitz ein Käffchen. Die Fuhre bestand neben der Zuglok 110 864 aus einem Ea-Wagen sowie einem Pwg88 für den Zugführer und hatte durchaus Modellbahn-Charakter. Während der offensichtlichen Pause hatte der Lokführer die Sparbeleuchtung eingeschaltet. Inzwischen war es ein bisschen heller geworden, an den Baumwipfeln jedoch kann man erahnen, wie stark der Wind war.
Bild 4: Kurz darauf kam Bewegung ins Spiel. Das Personal erschien, der Zug wurde aufs Nachbargleis rangiert und wartete auf Ausfahrt in Richtung Wolgaster Fähre. Höchste Zeit für mich, dorthin aufzubrechen und den Zug zu erwarten. Die 110 864 wurde 1994 z-gestellt und 1995 ausgemustert, kam jedoch wieder in Fahrt und versieht heute noch im Ruhrgebiet ihren Dienst bei einem privaten EVU.
Bild 5: Inzwischen war es leidlich hell geworden und der kurze Güterzug kam am nördlichen Bahnsteig von Wolgaster Fähre etwa dort zum stehen, wo ich die 110 126 zuvor in der Dunkelheit aufgenommen hatte. Links von der Lok kann man über dem Schilfgürtel das blaugraue Wasser des Peenestroms erkennen.
Bild 6: Das Foto scheint aus einer fernen Epoche zu stammen. Das Schlußlicht des Pwg war noch angeschaltet, als man mit der 110 864 im Bahnhof Wolgaster Fähre ohne jede Hektik umsetzte. Auf der anderen Seite des Bahnsteigs ist ein Kesselwagen des abgestellten und zu trajektierenden Güterzuges zu erkennen, dessen letzter Wagen soeben eingetroffen war. Im Hintergrund steht das heute noch existierende Empfangsgebäude des Bahnhofs Wolgaster Fähre. Ansonsten hat sich hier schlichtweg alles verändert.
Bild 7: Die Lok wurde vom Rangierer noch ohne Warnweste aber immerhin schon mit Helm ans andere Zugende gekuppelt. Die verharschten Schneereste zwischen den Gleisen verraten etwas über die Temperatur, dazu kam der starke Wind. Dennoch verspürte ich eine gewisse Fröhlichkeit, bald die letzten Güterwagen auf dem Trajektschiff von der Peenebrücke aus fotografieren zu können.
Bild 8: Nach nochmaligem Rangieren stand die Lok mit den beiden Wagen nun am südlichen Bahnsteiggleis des Bahnhofs Wolgaster Fähre vor ihrem 7-Wagen-Zug und ich hoffte, dass man nun bald zum Fährschiff aufbrechen würde. Es war zwar immernoch nicht richtig hell, aber wegen der geringen Fahrgeschwindigkeit zum Fähranleger würde es schon irgendwie gehen mit den Fotos. Dann jedoch schwieg plötzlich der Motor der V100. Was nun?
„Wir warten noch!“ bekam ich zur Antwort, als ich mich beim Personal erkundigte. Da keine Personenzug-Ankunft in nächster Zeit zu erwarten war, ich mich aber auch nicht zu weit weg wagen wollte, um die Trajektierung nicht doch noch zu verpassen, begab ich mich aufs nahe Festland, wo gerade ein Personenzug in Wolgast Hafen ankam.
Bild 9: 211 079 war soeben in Wolgast Hafen eingelaufen und hatte abgebügelt. Man sah ihr an, dass sie in einen Graupelschauer gekommen sein musste, die kalten Puffer tragen noch ein weißes Kleid, während der wärmere Lokkasten schon weitgehend schneefrei ist. Inzwischen war es fast 9 Uhr morgens, etliche Reisende stiegen aus. Der Einfach-Fahrleitung des Streckenabschnitts Züssow-Wolgast Hafen war nur eine kurze Lebensdauer von 10 Jahren von März 1989 bis Mai 1999 vergönnt.
Bild 10: Auf dem Fährschiff „Stralsund“ regte sich derweil immernoch nichts. Die Wasseroberfläche verriet nicht viel über den böigen Wind, der nicht nachlassen wollte. Das damals schon recht betagte Dampfschiff mußte in seinen letzten aktiven Dienstjahren mühevoll mit Schlepperhilfe manövriert werden, da eine Reparatur der defekten Maschinenanlage mißlungen war. Die Manövrierbehinderung wurde durch das Zeichen Ball-Rhombe-Ball im Mast dem weiteren seefahrenden Volk zur Kenntnis gegeben, das damit die Pflicht hatte, besonders achtsam zu sein. Die "Stralsund" liegt nun schon seit einigen Jahren in der Nähe ihres letzten Einsatzortes als Museumsschiff an der Wolgaster Schloßinsel und soll das weltälteste erhaltene Eisenbahn-Dampf-Fährschiff sein. Im Bildhintergrund erkennt man die Peenewerft, wo heute auch alles anders aussieht. Wozu mag die „Nußschale“ im Vordergrund gedient haben?
Zurück zur Insel, dort stand die Ankunft eines Personenzuges auf dem Fahrplan, außerdem sollte ja noch vormittags trajektiert werden…
Bild 11: Kurz darauf lief die 110 792 mit ihrem 4-Wagen-Zug aus Richtung Zinnowitz kommend an den nördlichen Bahnsteig in Wolgaster Fähre. Im Hintergrund stand der Güterzug, an dessen nicht sichtbarem Ende immernoch die 110 864 auf besseres Wetter wartete. Das Güterschuppen-Gleis im Vordergrund war schon eine Weile nicht mehr befahren worden, wie man sieht.
Bild 12: Der Rangierer, der an jenem Morgen aus gutem Grund mit hochgeschlagenem Kragen an seiner Wattejacke unterwegs war, hatte soeben die 110 792 am anderen Zugende angekuppelt, bis zur Abfahrt nach Ahlbeck war jedoch noch etwas Zeit. Auf der anderen Bahnsteigseite wartete die 110 864 mit ihrem Güterzug, nach links schwenkte die mit einer Gleissperre gesicherte Verbindung zum inselseitigen Fähranleger weg, die die im Bildhintergrund liegende nunmehrige Bundes- und vorherige Fernverkehrsstraße 111 kreuzte. Vom Güterschuppen fast verdeckt ist das hellblaue Fachwerk der damaligen Peenebrücke.
Der Wind dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen. Doch plötzlich erschien das Personal der 110 864 und ließ den Motor an. Schön, es würde also gleich mit dem Rangiergeschäft zum Fähranleger losgehen. Doch halt, was war denn das?
Bild 13: Die 110 864 hatte abgekuppelt und lief nun an den Schluß des Personenzuges um! Offensichtlich hatte der Lokleiter des Bw Heringsdorf die Maschine wegen des für das Trajekt ungünstigen Wetters „nach Hause“ beordert. Im Augenblick des Auslösens, als beide 110er nebeneinander waren, lugte kurz die Sonne durch die Wolken. Über dem Motorvorbau der 110 864 kann man noch die Turmkuppel der Wolgaster Petrikirche ausmachen. Der Personenzug verließ kurz darauf mit seiner Schlußlok den Bahnhof. Auf das Aufstellen der rechts am Ladegleis lagernden Schneezäune hatte man offensichtlich verzichtet.
Also erst einmal hinterher nach Zinnowitz, vielleicht war dort etwas in Erfahrung zu bringen. Bei den damaligen Inselbahn-Reisezeiten und dem an diesem Morgen nur geringen Autoverkehr war es mir gelungen, vor dem Zug in Zinnowitz zu sein. Dort stand schon der Personenzug nach Pennemünde für Umsteigewillige bereit.
Bild 14: Während der Personenzug aus Wolgaster Fähre mit Zuglok 110 792 und außerplanmäßiger Schlußlok 110 864 rechts einläuft, wartet links die 110 126 abfahrbereit auf umsteigende Reisende ins nach vielen Jahrzehnten wieder von der Allgemeinheit aufsuchbare Peenemünde. Gut ist die Kiesbettung der Gleise von Zinnowitz erkennbar.
Hier möchte ich fürs erste enden. In Ermangelung einer Lokomotive konnte bis auf weiteres erst einmal kein Güterwagen in Wolgaster Fähre rangiert werden. Beim Fahrdienstleiter in Zinnowitz hatte man auf meine Frage
ein „Zu windig zum Trajektieren!“ gemurmelt. So blieb zunächst nur die vage Hoffnung auf eine Wetterberuhigung am Nachmittag. Aus dem Gütertrajektverkehr war -wie gesagt- erst einmal nichts geworden. Zumindest aber den letzten Güterzug hatte ich „im Kasten“. Falls Interesse besteht, setze ich den Bericht gern fort.
Tschüß und Gruß
Mathias
Edit vom 05.11.2010: Inzwischen gibt es auf Grund der durchweg positiven Resonanz in [
www.drehscheibe-foren.de] den zweiten und zugleich letzten Teil.
11-mal bearbeitet. Zuletzt am 2010:12:05:15:41:57.