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Winter 1951 - Teil 2 (leider noch länger)

geschrieben von: berre_mz

Datum: 04.11.09 15:27

Liebe HiFo-risten, werte Mit-Zeitreisende,

nachdem der erste Teil der Winterreise 1951 ganz ordentlich geklickt wurde (wobei das natürlich wenig darüber aussagt, ob die Geschichte gelesen oder gleich wieder weggeklickt wurde oder ob sich jemand nur an den Fotos erfreut), habe ich meine Notizen wieder zur Hand genommen, um nochmals meine Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Sollten sich Ungereimtheiten finden, so bitte ich um Nachsicht. Vielleicht konnte ich das ein oder andere Wort meiner in Hast und schlingernden Zügen aufs Blatt geworfenen Kritzeleien einfach nicht mehr entziffern. Hinweise sind da dringend erbeten - man reist ja nicht gerne durch die Zeit mit den falschen Erinnerungen im Gepäck.

Für jene, die nochmals auf die Schnelle den ersten Teil studieren wollen, geht es hier zu Teil 1 sowie zu den weiteren Folgen 3, 4 und 5:


Winterreise 1951 - eine lange Geschichte mit Bildern

Winterreise 1951 - 3. Teil

Winterreise 1951 - 4. Teil

Winterreise 1951 - 5. Teil

TAG 2

Ein Klopfen beendet die Nacht. Zwei Mal, dann nach angemessener Pause noch zwei Mal. Es hat diesen warmen, vollen Klang von schwerem Holz, und verfehlt beim zweiten Anlauf seine Wirkung nicht. Ich bin wach. Ja, sogar schlagartig wach, nachdem mir nach einem kurzen Blick wieder gewahr geworden ist, wo ich bin – im Schlafwagen! 22. Dezember 1951! Ein Samstag. Rasch erhebe ich mich aus dem Bett – „Moment noch“ - , schlüpfe rasch in meine Hosen, streife den Pullover über. Viel schneller als sonst. Von Haus aus bin ich Morgenmuffel. Aber jetzt doch nicht.

„Ja, bitte.“ Die Tür öffnet sich, eine Hand mit einem kleinen Tablett und einer Tasse Kaffee schiebt sich hinein, dann sehe ich das freundliche Gesicht des Schlafwagenschaffners. „Mein Herr, guten Morgen, es ist 5.15 Uhr, Ihre Herren Freunde haben geruht, Sie bereits jetzt wecken zu lassen… Hatten Sie eine wohltuende Nacht?“ Ich mag seine leicht gespreizte Sprache, die vom jahrzehntelangen Umgang mit sogenannten höheren Herrschaften zeugt. Ich nicke ihm zu: „Sehr angenehm, Danke." Aber noch viel angenehmer ist der würzige Duft, den die dampfende Tasse in meinem kleinen Abteil nun entfaltet. Heißer Kaffee, frisch aufgebrüht. Ein Traum jetzt. Fast gierig greife ich zu, nippe aber vorsichtig, ein kleiner Schluck, dann ein großer. Heiß rinnt der Braune die Kehle hinunter. Herrlich. Tag 2 kann beginnen.

Die anderen beiden stehen natürlich schon draußen im Gang an den Fenstern. „Moin, moin, ihr Helden.“
„Gott zum Gruß, Schnarch-Nase.“
„Wo sind wir denn?“
„Langenselbold grad durch, gleich kommt Hanau.“
„Und schon den Kopf draußen gehabt?“
„Klar, in Langenselbold haben wir´n Personenzug Richtung Frankfurt überholt, Donnerbüchsen, P8. Hat schön geschmaucht.“
„Apropos… jetzt werd´ich auch mal was wegschmauchen… und ich hol mir noch´n Kaffee beim Ostpreußen… wach werden.“

Draußen ist es noch rabenschwarz, noch zweieinhalb Stunden bis Sonnenaufgang. Auf der Landstraße tasten sich wie dünne Finger die Scheinwerferstrahlen vereinzelter Autos durch die Nacht, während ich in den Dörfern an der Strecke an vielen Häusern bereits erleuchtete Fenster sehe. Deutschland erwacht zu seinem vorletzten Tag vor dem Fest - und wir fahren mitten hinein. Ich bekomme Gänsehaut.

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Fenster auf und Kopf raus. Ich kann natürlich nicht sehen, was wir jetzt vorne dran haben, erst recht kann ich es nicht hören, aber unsere Lok-Mannschaft macht gehörig, weithin hörbar kräftig Dampf. Wir fegen an den dicken wattigen Schwaden vorbei, die sich seitlich vom Zug sanft auf die schneebedeckten Felder legen. Schon kurz darauf verlassen wir die ländliche Gegend, Vorstadthäuser tauchen auf, dann kleine Werkhallen, erste Wohnblocks. Der Wiederhall der donnernden Maschine wird merklich lauter.

„Das ist Hanau", ruft mir einer der Kameraden zu, und schon haben wir das Einfahrtsignal passiert, kacheln durch den Bahnhof, vorbei an gut gefüllten Bahnsteigen voller eingemummelter Menschen. Ich kann im Vorbeihasten unseres eiligen Zuges im diffusen Licht der schwacher Bahnsteigbeleuchtung die Gesichter nicht erkennen, nicht fixieren, aber was mögen jene Menschen, die müde und frierend auf ihren Personenzug warten, der sie zur Arbeit nach Frankfurt bringen wird, über uns im wohlgeheizten D-Zug wohl denken? Sind wir in ihren Augen reiche Ausländer, Besatzungssoldaten, Kriegsgewinnler?

Wir hetzen weiter, röhren über die Main-Brücke, um links des Flusses Offenbach und dann Frankfurt entgegenzustreben. Und je näher wir jetzt der Doppelstadt am Main kommen, desto erschreckender werden die immer noch reichlich vorhandenen Trümmer entlang der Bahnstrecke, die notdürftig reparierten und provisorisch bedachten Behausungen, klaffen immer wieder Lücken in der Bebauung, sieht man die gähnende Leere abgeräumter Grundstücke. Bedrückend. Bilder und Gedanken, bei denen ich für einen Moment die Herrlichkeit meiner Zeitreise vergesse. Während in der ED Frankfurt der Betrieb schon wieder gut Fahrt aufgenommen hat, müssen viele Menschen noch lange Zeit warten, bis sich auch ihre Verhältnisse spürbar verbessern werden.

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Eine fünfköpfige Familie in einer eineinhalb-Zimmer-Wohnung, das ist sechs Jahre nach dem Krieg 1951 in der einst so stolzen Handelsstadt keine Seltenheit. Ein Bahnfreund aus Aachen, ein gebürtiger Frankfurter, hat es mir mal erzählt… er hat es selbst erlebt damals.

„Hallo, jemand zu Hause?“, klopft mir der Kamerad auf die Schulter, hält mir eine frische Tasse Kaffee unter die Nase, meine dritte. „Hey, das ist Frankfurt…“. Wir quietschen vom Main her kommend die große Kurve hinunter, halten die Köpfe aus dem Fenster und da, riesig, gewaltig, rasch entgegenkommend – die Hallen des Hauptbahnhofs, die sich majestätisch, noch ganz ohne den Talmi der späteren Glitzer-Skyline im Hintergrund, vom Nachthimmel abheben. Die drei großen und zwei kleinen Halbrunde leuchten warm von innen, während das Vorfeld kaltweiß da liegt, nur die Schienenköpfe ragen aus dem Schneeteppich hervor – es muss frisch geschneit haben. Und über dem Schienengewirr überall kleine und größere Dampffahnen, manche bewegen sich, ohne dass wir sehen könnten, zu welcher Maschine sie gehören. Lange Wagenreihen auf den Nachbargleisen verstellen uns den Blick.

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„Da, da guck – da stehen zwei 93er“, schreit es dann aber aus dem Doppelabteil zu uns raus, „und da kommt eine 01 … mit großen Blechen.“
„Komm Du doch her – da ist `ne 42.“
„Nee, kommt ihr, da … eine 74…“
Die Zahlen fliegen zwischen uns hin und her, dazwischen auch mal ein irres Lachen, ein gekeuchtes „Wahnsinn“ - das arme Hamburger Ehepaar, das aussteigebereit im Gang steht, schaut sich irritiert an, dann wieder uns. Fassungslos darüber, was da drei doch so seriös aussehende und offenkundig auch gut situierte Männer besten Alters frühmorgens für wahnwitzige Spielchen treiben. Sind wir harmlose Irre – oder doch vielleicht gefährlich? Wenn wir jetzt nicht aufpassen, holen uns bald die Tierfänger. Ich stoße meinen Kameraden an. Er versteht, dreht sich zu dem Paar hin und setzt sein charmantestes Lächeln auf: „Gnädige Frau, werter Herr, wir sind vom Rechenclub Pahlen-Pahlhude … und stellen uns gegenseitig Rechenaufgaben, die wir mittels komplizierter Formeln zu lösen haben. Sie verstehen?“
„Ja, ja, gewiss, natürlich …. ein Rechenclub, und da machen Sie gerade einen Vereinsausflug, ja?“ Sie ist glücklich, nun eine Erklärung für unser Tun zu haben. „Das haben Sie fein bemerkt, dürfen wir Ihnen einen schönen Tag wünschen?“ Ich glaube, die beiden sind aber doch froh, dass wir schon am Bahnsteig vorbeirollen und sie sich uns drei merkwürdigen Gestalten entziehen können. Sicher ist sicher.

„FRANKFURT – hier Frankfurt…“, tönt draußen die Bahnhofs-Stimme, „Sie haben Anschluss an …“ Es ist jetzt 5.49 Uhr. Wir sind pünktlich, auf die Minute genau. Ja, das ist die Bundesbahn – 1951.

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Welch Gewimmel zu unseren Füßen. Die Wartenden knäueln sich mit den Aussteigenden. Die Menge schiebt, Gepäck wird gewuchtet, Menschen fallen sich in die Arme. Auch die junge hübsche Dame aus unserem Schlafwagen, die nun ein keckes Hütchen auf dem wassergewellten Haar trägt, wird von einem ebenso jungen adretten Herrn mit offenen Armen empfangen, der sie mitten im Gewühl voller Überschwang herumwirbelt. Das Pärchen müsste heute – also 2009 – um die 80 sein….

Auch auf den Gleisen, soweit wir das beim Blick von unserem Logenplatz am Ende der Halle sehen können, herrscht Hochbetrieb. Zum Aussteigen und umschauen reichen unsere 12 Minuten Aufenthalt nicht, aber wir recken unsere Hälse, um so viel wie möglich einzufangen. Fast an jedem Bahnsteig steht mindestens ein Zug. Wir sind auf Gleis 8 eingerollt, neben uns auf 7 steht der D 58, der schon vor über 20 Minuten aus Richtung Dortmund und Wiesbaden eingelaufen ist, und sagenhafte 38 Minuten Aufenthalt hat, bis es weiter nach Passau geht. Auf der anderen Seite von uns ist Gleis 9 leer, da kommt erst nach unserer Abfahrt ein Personenzug aus Reinheim, aber auf 10, da steht der Cuxhavener D 176, der dasselbe Ziel hat wie wir bei unserer Umwegfahrt – Lindau. Seine Garnitur ist bunt gemischt wie die unsere. Ganz vorne ist wohl ein alter Preuße mit Oberlicht, dann Reichsbahn-Wagen 28er Bauart und direkt gegenüber von uns gleich drei DSG-Schlafwagen.

Noch weiter drüben auf 12 ist zwei Minuten nach uns der D 76 aus Kiel eingerollt, auf der anderen Seite pufft in der gleichen Minute P 1813 Richtung Bebra aus der Halle, wieder eine Minute später der 3616 nach Goddelau, fünf Minuten später um 5.57 Uhr der 2005 nach Weilburg, während eine Minute vorher bereits der 2902 aus Friedberg irgendwo unter den weiten Hallen an den Prellbock gerollt ist… eine 93 mit Abteilwagen, eine P8 mit Donnerbüchsen, und, und, und … Ein Jahr zurvor, als unser D 276 noch einstolzer FD war, herrschte schon ähnlich großer Betrieb, wenn die Fahrplanlage manchen Zugs auch etwas differierte wie die Bahnhofsfahrordnung vom Winter 1950 zeigt.

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Mir schwirrt der Kopf inmitten dieser hohl hallenden Kakophonie aus kreischenden Bremsen, polternden Rädern, mahlendem Stahl und wuchtigen Zylinderschlägen. Menschen rufen, Lautsprecher quäken, Abfahrtspfiffe gellen über die wogende Menge, alles umfangen von einer Waschküche aus sattem Dampf und öliger Schmiere unter einer hohen Dachlandschaft, die sechs Jahre nach dem Krieg noch immer durchlöchert die weißen Flocken zart und leise auf den Bahnsteig rieseln lässt. Es ist eine schal beleuchtete, aber nicht minder dramatische Kulisse, eine wahre Hexenküche.

Ich muss mal kurz vom Fenster weg, einfach Mal diese überreichen Eindrücke sacken lassen. Einen Moment Ruhe, nur einen Moment. Noch drei Minuten bis zur Ausfahrt, dann bin ich wieder draußen. Ein letzter Blick in den Frankfurter Hauptbahnhof...

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Die anderen beiden sind vollkommen entgeistert, von dem, was sie gerade erleben. Beide sind Sonderfahrten- und Plandampf-gestählt, sind durch alle Dampfbäder gegangen, haben Devotionalien gesammelt noch und nöcher … und nun? Mittenmang.

„Komm raus, der Speisewagen ist schon dran, wir fahren gleich“, muntern sie mich, dem man die emotionale Erschöpfung wohl doch etwas ansieht, auf. Ja, Speisewagen, das ist jetzt das Zauberwort. Kaffee satt, ein opulentes Frühstück, eine entspannte Zigarette, mal in Ruhe quatschen … das ist es jetzt. Aber jetzt erst mal die Ausfahrt, der Pfiff schrillt schon hell. Kopf raus in die Luft, tief einatmen, hinhören, wenn die dumpfen Schläge draußen vor der Halle dröhnen … aber nicht nur dort, nein. Hinter uns lärmt es auch, unsere Maschine, die den D 276 hergebracht hat, schiebt uns an. Mit einem mäßig langen Achtungspfiff hat unsere Zuglok Signal gegeben, und jetzt steht ihre schwarze Schwester ihr bei, die schwere Fuhre aus der Halle ins tiefe Dunkel der frühmorgendlichen Stunde zu wuchten. Bis zum Hs Signal am Bahnsteigende wird sie schieben, dann bleibt sie zurück.

Lok und Mannschaft können sich ins Bw zurückziehen, während wir kräftig Fahrt aufnehmen. Längst haben wir die Kommandobrücke, die zwischen den kleinen Stellwerken mit ihren vielen Signalen weit die Gleise überspannt, hinter uns gelassen, durchmessen schon recht behände das Vorfeld, vorbei an den Wagenschlangen, den wartenden, den emsig rangierenden, den einfahrenden Loks, und dann geht es hinaus auf die Strecke. Richtung Süden.

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Wir schieben die Fenster zu. Einer rollt den Ärmel hoch: „Kneif mich, sag mir, dass ich nicht gleich aufwache und alles nur Plandampf ist.“ Ich tu es, er jammert kurz auf – und grinst. „Okay, alles echt … Schmerz, Dampf, alles.“ Ich schlage Frühstück vor, wir müssen ja nicht dauernd am Fenster hängen, die Szenerie lässt sich ja auch im Sitzen bei einem stärkenden Frühstück bestens verfolgen – und wir dürfen uns keine Überdosis verpassen. Dann sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.

Wir gehen oder fast besser: wir tasten uns auf dem schwankenden Untergrund des vorwärts hetzenden Zuges durch die nur schwach beleuchteten Seitengänge an den Abteilen der Sitzwagen entlang. Viele Reisende haben hier die Nacht im Sitzen oder auch halb liegend verbracht, zugedeckt mit Mänteln, mitgebrachten Decken, aber wenigstens hatten sie es bei aller Unbequemlichkeit schön warm – noch drei, vier Jahre zuvor waren die Nächte in den Zügen noch ganz anders, erbärmlich kälter, zugiger. Es ist jetzt viertel nach Sechs, und die meisten sind schon wach. Mit müden Augen blicken sie durch die Fenster ins Dunkel, einige wickeln Butterbrote aus. Aber geredet wird um diese Uhrzeit noch nicht viel.

An den Faltenbalg-Übergängen röhrt es gewaltig, und es ist kalt. Stille in den Gängen, Dröhnen zwischen den Waggons, wieder Stille, bis wir endlich unser Ziel erreicht haben. „Uups, ich dacht, das wär´ einer von der ISG“, wundert sich einer meiner Mitfahrer darüber, dass ein DSG-Speisewagen unser rollender Frühstücksraum sein wird. „Ja, dacht ich auch, stand ja im Fahrplan, und da der Speisewagen ja bis Mailand durchfahren soll, darf es ja eigentlich keiner von der DSG sein.“

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Es sind keine anderen Gäste da. Noch ist es zu früh, es werden sich aber auch nicht so viele Menschen ein Frühstück hier leisten können. Die Fahrt ist schon teuer genug, man verzehrt Mitgebrachtes, Stullen, vielleicht ein bisschen Obst. Aber Speisewagen, das ist etwas für Geschäftsreisende, Besatzungsoffziere, die wenigen Bessergestellten mit altem Geld, ein paar höhere Beamte, Ausländer. Der Durchschnitt verdient im Monat nicht Mal 300 Mark, viele aber natürlich noch weniger – da wären selbst nur 10 Mark Zeche das, was heute 100 Euro sind. Und mehr.

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Rasch durchblättern wir die Speisekarte, dick ist sie nicht gerade, das Erste Frühstück nicht wirklich opulent: es besteht aus: 1 Kännchen Kaffee oder Tee mit Sahne und Zucker oder Kakao, Gebäck, Butter und Marmelade für 1 Person: DM 1,90, desgleichen mit Kaffee doppelt stark: DM 2,50. Na ja, aber es geht ja auch á la carte.
„Guten Morgen, die Herren wünschen ein Frühstück?“

Der Kellner hat sich kerzengerade vor uns aufgebaut. Die kurzen Haare rasiermesserscharf auf Facon getrimmt, das Livree-Jackett blütenweiß, die schwarzen Hosen mit Bügelfalten, so scharf, dass man mit ihnen auch Brot hätte schneiden können.
„Bringen sie mal für uns alle ausreichend Brötchen, dann Leberwurst, Schinken, Braten, Cervelatwurst und ein paar Scheiben Emmentaler, ach ja, und für mich erst Mal zwei Setzeier mit Schinken.“ Die anderen wollen auch Eier. Der Kellner nickte: „Sehr wohl, die Herren, Bohnenkaffee oder Tee?“ „Kaffee, den doppelt starken, bitte.“
Mit einer knappen Verbeugung empfiehlt sich unser zackiger DSG-Steward mit unserer Bestellung, die er jetzt erst Mal für seine Kasse auseinanderdividieren muss, denn eigentlich gibt es das alles nur einzeln, die Scheibe Brot oder ein Brötchen mit Butter und Leberwurst zu 0,64 DM, Brot und Brötchen mit Braten zu 0,90 DM oder die Portion Emmentaler mit Butter und zwei Schieben Brot für 1,43 Mark, alles zuzüglich 15 Prozent Bedienungsgeld. Von Letzterem und dem Trinkgeld leben die Kellner, denn sie werden nach dem Tronc-System bezahlt – Bedienungsgeld und Trinkgeld werden in einem Topf gesammelt und nach einem Schlüssel, der die jeweilige Position berücksichtigt, an das Personal ausbezahlt. Kein Umsatz – kein Geld.

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Es dauert nicht lang, da bauen der Kellner und sein Kollege eifrig, aber mit unglaublicher Präzision all die appetitlichen Sachen vor uns auf, der Kaffee dampft und duftet, dass man schon davon glockenwach wird.
„Sagen Sie bitte“, frage ich, „warum ist denn kein ISG-Wagen eingestellt?“
„Der hat auf der Fahrt nach Frankfurt einen Heißläufer gehabt und ist in Karlsruhe raus.“
„Und dann sind sie eingesprungen.“
„Jawohl, aber nur bis Basel. Deshalb fahren wir mit reduziertem Personal.“
„Zu wievielt sind Sie denn sonst?“
„Dann ist noch Herr Oberkellner Maschinski dabei, ja und noch ein Silberputzer in der Küche.“

Plötzlich draußen ein kurzer Lichtschein, Rauschen, dann lautes Dröhnen, wir begegnen einem Güterzug nach Norden. Wir nähern uns Darmstadt, das wir um 6.31 Uhr erreichen werden, bevor es an der Bergstraße entlang und dann über Weinheim und Friedrichsfeld nach Mannheim geht. Wir lassen es uns schmecken, hauen richtig rein.
„Jetzt müssten wir eigentlich am Fenster stehen…“
„Nee, müssten wir nicht … das ist eine Reise, keine Sonderfahrt.“
„Aber das alles sehen wir nie wieder…“
„Ja, aber wenn wir nur an das denken, was wir verpassen, dann wird das eine einzige Hetze …. Ich genieße lieber ganz bewusst die wichtigen Momente, das wird schon genug …mehr als ich fassen kann.“
Wir diskutieren mit vollen Backentaschen lebhaft über unsere Zeitreise, über das, was wir sollten und was nicht, eine herrlich irrwitzige Debatte, aber wir sind uns im Prinzip ja ohnehin einig: „Genießen mit allen Sinnen steht im Vordergrund, Erfahrungen sammeln, und dann nochmals genießen, genießen, genießen…Sonne, Dampf und Pulverschnee.“ Wir beschließen am Abend im Hotel in Lindau so eine Art Rütli-Schwur abzulegen über das korrekte Verhalten von Zeitreisenden. Der Wein wird uns schon den richtigen Weg weisen.

In Darmstadt ist auch viel Betrieb. Die Anschlüsse warten schon – nach Aschaffenburg, nach Wiesbaden und ein Bummelzug hoch in den Odenwald nach Wiebelsbach-Heubach. Der Aufenthalt ist nur zwei Minuten kurz, dafür können wir uns am eigenen Ausfahrtspektakel kaum satt sehen. Alles spielt sich immer noch im Dunkeln ab, denn Sonnenaufgang ist erst in eineinhalb Stunden. Allerdings lässt der sternenfunkelnde Himmel darauf hoffen, dass es ein klarer Wintertag wird.

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„Mannheim, hier Mannheim...“ – ich muss unwillkürlich an den wunderbaren Bildband von Eisenbahnfreund Wolfgang Löckel denken, als die Stimme aus dem Bahnsteiglautsprecher uns die Ankunft in der Rhein-Neckar-Stadt meldet. Was würde er sagen, wenn er nun mit uns jetzt hier wäre? Denn noch stehen die altehrwürdigen, hohen Hallen, die schon 1951 ein architektonischer Gruß aus der Zeit der Altvorderen sind. Acht Minuten beträgt unser Aufenthalt, und diesmal wollen wir draußen sehen, was man uns jetzt vorspannt. Wir geben unserem verwunderten Kellner kurz Bescheid, dass er noch nicht abräumen soll, dann raus auf den Bahnsteig … und jetzt hilft uns das jahrelange Training bei Sonderfahrten, wenn es galt bei Stopps an Bahnhöfen oder Fotohalten als Erster vorn zu sein, bevor sich irgendjemand anderes ins Bild stellte. Jetzt schlängeln wir uns geschwind durch die Menschenmenge auf dem Bahnsteig, nehmen in kühnem Sprung Gepäckhindernisse, rufen im Vorbeihasten Entschuldigungen. Aber es ist ein langer Weg, denn seit dem Richtungswechsel in Frankfurt waren wir vorn, und jetzt, mit dem abermaligen Ändern der Laufrichtung, müssen wir praktisch den ganzen Zug entlang hetzen.

Von unserer alten Lok sehen wir nur noch die Rücklichter, hören ihr kurzatmiges Puffen auf dem Weg zu kurzer Ruhe und nächstem Einsatz. Doch schon ist Ersatz parat, leichtfüßig rollt er - oder besser: sie - aus dem Dunkel heran: eine 03.10, genauer gesagt 03 1055 vom Bw Offenburg. Es ist ein Zufall, dass ich sie kenne, denn ich hatte irgendwann einmal ihr Betriebsbuch in der Hand. Und jetzt köchelt sie genau vor meiner Nase, man spürt förmlich ihr nervöses Vibrieren, die geballte Energie – wie ein Sprinter in den Startblöcken. Nein, die pure Schönheit ist sie nicht mit der oben abgeschnittenen Rauchkammertür, auf der wie eine Bettwurst der Vorwärmer liegt, aber es ist der letzte offensichtliche Gruß aus ihrer Stromlinienzeit, als die innere Tür der Form der niedrigen äußeren in der Stromschale folgen musste. In den nächsten Jahren wird sie einen neuen Kessel erhalten und damit dieses äußere Erkennungszeichen verlieren. Auch die Oberrheinstrecke muss sie hinter sich lassen, wird im Frühjahr ´52 ihren Schuppenplatz in Offenburg an eine 01.10 verlieren und nach Ostwestfalen, nach Paderborn, auswandern müssen. Gerade erst im elften Lebensjahr stehend, wird es bereits ihr zehntes Bw werden. Weit ist die 1055 rumgekommen – Heidelberg hat sie gesehen, Linz an der Westbahnstrecke, Posen im Wartheland mit Fahrten bis Warschau, Ingolstadt, München, Mühldorf, Treuchtlingen und wieder Ingolstadt.

Genug der versonnenen Gedanken, es ist längst angekuppelt, der Zeiger der Uhr steht nur noch einen Strich vor der Abfahrtszeit. Hurtig geht es zurück, aber wir schaffen es nur bis zum zweiten Wagen, dann müssen wir rein, werfen hinter uns kracht die Tür ins Schloss – ein kraftvolles, blechernes Geräusch, das ich in der Zeit selbsttätig schließender, albern piepender ICE-Türen sehr vermisst habe.

Unsere Drillings-03 ist schon in Fahrt gekommen, aber in dem vollbesetzten Gang wollen wir jetzt kein Fenster aufreißen, die Reisenden, die jetzt gerade zugestiegen sind, hatten an diesem frühen Morgen schon Frischluft genug. Also zurück zum Frühstückstisch, wo wir uns frischen Kaffee – den doppelt starken - bringen lassen.

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„Wow, das war geil, oder? 03.10 – und dann noch mit der alten Rauchkammertür.“
„Darauf noch ein Bratenbrötchen… oder zwei, ich könnte dauernd essen, das ist doch nicht normal.“
„Oh doch, meine Eltern, haben früher, wenn wir von Bonn nach Basel gefahren sind, immer Brote geschmiert, und vor Koblenz waren die weg.“
„Ja, Speisewagen war auch bei uns nicht – nicht im Traum, viel zu teuer.“
„…aber wir haben es nicht vermisst, ich hab mich, glaub´ ich, erst mit 20 oder so in einen reingetraut.“
„Ich hab´s mir auch wieder abgewöhnt, ICE ist mir zu edel, ohne Zigarette schmeckt mir das Bier nicht, überhaupt fehlt mir das Muffige, das hatte immer so was spelunkiges, das hat die Leute zum Quatschen animiert.“
„Jetzt hast Du statt Geschäftsmann nach dem dritten Bier nur noch Nordic-Walking-Senioren mit Tee und Blattsalat.“

Speisewagen-Melancholie, die uns zwei Tage vor Weihnachten 1951 in unserem früheren Mitropa-Waggon wenig belastet. Nun zählt nur das Jetzt, und das ist unser D 276, der jetzt im ersten Büchsenlicht der alten Residenzstadt entgegenstrebt. Wir nehmen unseren Zugbegleiter zur Hand, während wieder und wieder andere Züge in Gegenrichtung an uns vorbeidröhnen – alle unter Dampf, ausnahmslos. Jedes Mal verdunkelt kurz ein großer schwarzer Schatten die Fenster … und lässt uns mit offenem Mund schweigend staunend zurück. Wir zahlen, geben sehr ordentlich, aber nicht größenwahnsinnig Trinkgeld in den Tronc, was unser Kellner mit einem distinguierten „sehr freundlich“ quittiert, aber seine etwas geweiteten Augen verraten, welch große Freude ihm der Extra-Schein zwei Tage vor Weihnachten bereitet. Doch plötzlich lässt er alle Zurückhaltung fahren - "Einen Moment, bitte" -, geht zu seinem schmalen Pult, holt etwas Grünes hervor, das er mir feierlich überreicht - ein Amtliches Kursbuch Südwestdeutschland. "Ich habe Ihrem Gespräch über Fahrpläne zugehört, das war nicht meine Absicht, aber da dachte ich, Sie könnten dies hier vielleicht gebrauchen." Und wie!

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In Karlsruhe – endlich ist es hell - wird der hinter uns liegende Kurswagen nach Lyon abgezogen. Wir haben bei 15 Minuten Aufenthalt. Genug Zeit, das zu beobachten. Ein seltener, heute längst vergessener Arbeiter verrichtet da sein Werk – der D-Kuppler 92 2-3, die frühere badische Xb, die als besonderes Erkennungszeichen zwischen den Domen ein Überstromrohr besitzt, aber im kollektiven Bahn-Gedächtnis neben all den Rennern, den Giganten und den omnipräsenten Preußen kaum Spuren hinterlassen hat. Ein zweiteiliger EK-Beitrag aus den frühen 70ern – ja, das waren die kleinen weißen Heftchen - , kommt mir in Erinnerung…

Ich lasse die anderen auf dem Bahnsteig unter dem immer noch nicht reparierten Hallendach zurück, will schnell eintauchen in das Dunkel der Schalterhalle. Ich hoffe, auf die Schnelle vielleicht noch ein paar Faltblätter, ein bisschen Bahnwerbung abstauben zu können. Wie gern würde ich rasch rüber zum Albtalbahnhof, zu den alten Triebwagen – aber dafür reicht die Zeit nicht. Noch acht Minuten, gerade mal Zeit für einen flüchtigen Eindruck von einem Großstadtbahnhof so kurz nach dem Krieg. Ich haste die ausgetretenen Treppenstufen hinunter, durch die Unterführung zur Eingangshalle – und falle schon auf. Für Hast und Hektik scheinen die Menschen keinen Anlass zu haben, das war schon in Hamburg zu beobachten, aber auch all die anderen Attribute der Moderne – Lärm, helle Beleuchtung, grelle Farben allenthalben - , das fehlt. Es gibt ein paar Schaukästen mit Licht, meist für die Fahrpläne, auch große Leuchtschriften an den Stirnwänden der Tonnengewölbe, aber sonst ist alles so sparsam und zurückhaltend wie die Bahnhofsmöblierung. Ein paar schwere, hölzerne Bänke, ein kleiner Kiosk, das war´s.

Die Orientierung fällt da nicht schwer, ich finde rasch einen Auskunftsschalter, der das Gewünschte für mich hat, sogar Zugbegleiter sehe ich hinter ihm sorgsam in einem hölzernen Gestell aufgereiht. Ich versuche es ganz direkt: „Geben Sie mir bitte ein paar Zugbegleiter, das Faltblatt von der Schwarzwaldbahn, den über Netzkarten …. Und haben Sie etwas über Güterverkehr?“ Der Beamte, vielleicht Mitte 40, wird schon viele Fragen gehört haben, die aber nicht. Ich sehe die Fragezeichen in seinen Augen, und füge schnell hinzu: „Ich bin ein Freund der Eisenbahn …. Ich sammle das.“ Dabei versuche ich unbeholfen, so intelligent wie eben möglich zu schauen, damit er nicht gleich den Arzt ruft, aber er sagt nur „so, so… auch Güterverkehr“, dreht sich um und klaubt das Gewünschte zusammen, öffnet die Klappe der kleinen ovalen Öffnung in der Scheibe, die uns trennt, und reicht alles durch. „Der Prospekt über die Schwarzwaldbahn kostet aber 50 Pfennige, mein Herr.“ Ich krame in meiner Hosentasche, habe aber zum Glück keine Mühe, den kleinen silbernen 50er mit dem geriffelten Rand zu ertasten – schließlich habe ich jahrzehntelang diese Münzen benutzt. Die Scheine des Jahres 1951 sind mir dagegen sehr fremd.

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Ich danke rasch und haste zurück. Eine Minute noch, und 1951 heißt das auch, dass mein Zug in einer Minute auch wirklich losdampft. Aber ich schaffe es mit letzter Kraft, die anderen beiden feuern mich – weit aus dem Fenster lehnend – an, als ich die Treppe hochhetze. Ich reiße die schwere Waggontür auf, klettere die steilen Trittbretter hoch, wo mich schon unser Ostpreuße empfängt. „So eilig, der Herr? Darf ich noch einen Kaffee servieren?“ Ich schaue den dienstbaren Geist dankbar an, nicke, und stürze ans Fenster, um unsere Anfahrt, den Blick aufs Bahnhofsvorfeld nicht komplett zu verpassen.

Mein Gott, was gibt es da alles zu sehen, mein Kamerad hat es längst aufgegeben, sich zu allem Notizen zu machen, er hat genug mit Staunen zu tun. Allein der Anblick einer 42 vor einem schweren Güterzug bringt ihn schier aus dem Häuschen, während ich all die vielen Wagenarten versuche zu erfassen – Abteilwagen, Donnerbüchsen, Schürzenwagen, 28er noch und nöcher, alte Preußen mit Oberlicht, Güterwagen Bauart Bromberg, lange Reihen mit G 10, Güterzugbegleitwagen und, und, und… wenn mich am Ende der Reise der Wahnsinn umnebelt und ich nur noch debil grinsend Nummern stammle – es dürfte den geneigten Leser nicht verwundern. Ich ziehe mich kurz in mein Abteil zurück, dass der Schaffner für den Tagesgebrauch hergerichtet hat. Ich blättere in den Prospekten, die mir der Beamte gereicht hat, und tatsächlich - eine schöne Auswahl: ein paar Zugbegleiter, Schwarzwald-Prospekte, sogar etwas vom Güterverkehr - und da, wow, ein Zugbegleiter vom Rheingold-Express, der gerade Mal ein halbes Jahr wieder fährt.

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Über uns strahlend blauer Himmel, die ganze Welt in ein unschuldiges Weiß gehüllt. Es wird ein Traumtag. Der Dampf unserer kräftig donnernden 03.10 bauscht sich zu dicken weißen Wolken, die einen Moment in der Luft zu stehen scheinen, um sich dann entlang der Strecke zur Ruhe zu legen. Es ist eine Pracht, aber auch das ganze Landschaftsbild, die weiß gezuckerten Schwarzwaldberge, all das, was vor unserem Fenster liegt, birgt so viele Eindrücke. Ein kleiner Bahnübergang bei Muggensturm, an dem wir – wohl durch eine Langsamfahrstelle – recht langsam vorbeipoltern ist ein wundervolles Idyll: Der rot-weiße Schlagbaum mit seinem metallischen Gehänge, hinter einem Staketenzaun das Schrankenwärterhäuschen, aus dessen Schornstein gemütlich weißer Rauch aufsteigt, das kleine Läutewerk … und dann warten da auch zwei Autos unsere Vorbeifahrt ab. Ein Mercedes 170 und ein kleiner Tempo-Lieferwagen mit einer großen Kiste auf der Ladefläche, jenes legendäre Dreirad, das so manchem Händler und Handwerker die Teilnahme am aufkommenden Wirtschaftswunder erst ermöglicht.

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Immer wieder reißen wir die Fenster runter, aus Übermut und um tief zu inhallieren, einen Lungenzug voll Schneeluft, angereichert mit würzigem Dampf und untermalt von einem symphonischen Klangtraum, virtuos gespielt auf drei Zylindern – vom Adagio über ein Andante maestoso bis zum Presto con fuoco, vom Pianissimo der am Bahnsteig wartenden, leise säuselnden Maschine bis zum Fortissimo, wenn sie mit donnernden Paukenschlägen ihre Fuhre in Fahrt bringt. Und jedes Mal klingt es eine Nuance anders, liefert der Konzertmeister auf dem Führerstand eine andere Interpretation des sich in jenen alten Tagen tausendfach wiederholenden Klangspektakels.

Muggensturm ist durch, jetzt kommt schon Rastatt mit dem Abzweig zur Murgtalbahn nach Freudenstadt, aber leider sind die Gleise leer. Vor dem Bahnhof fuhr bis 1939 noch die MEG ab, die sich nun fast vor die Stadt zurückgezogen hat. Wir halten kurz, und dann sehen wir doch noch etwas von der hübschen Schmalspurbahn, deren Netz bis nach Lahr und an die Hänge des Schwarzwaldes reicht. Unterhalb des Bahndamms, auf dem unser D 276 Richtung Süden rollt, liegt Rastatt Übergabebahnhof. Und tatsächlich: Auf den recht umfangreichen Gleisanlagen stapft einer der kleinen Zweikuppler tapfer durch den Schnee, zwei kleine schmalspurige Güterwagen im Schlepp, während die abgestellten Rollwagen heute leer sind.

Immer wieder zweigen von der Rheintalstrecke Nebenstrecken, Privatbahnen und Schmalspurbahnen ab – wir kommen jetzt praktisch gar nicht mehr vom Fenster weg, ich trinke meinen x-ten Kaffee, mit dem mich unser Schlafwagenschaffner dauernd und unaufgefordert versorgt, im Stehen. Ich glaube, er hat seine Verrückten am Fenster ins Herz geschlossen. Die Eisenbahn, das war sein Leben lang sein Beruf, der ihm Aufgabe, Lohn und Brot gebracht hat, dass man die Bahn aber lieben kann, ihr Leidenschaft und Begeisterung widmet – das hat er jetzt bei uns erst kennengelernt. Und quittiert es mit nachsichtigem Schmunzeln. Er hält uns bestimmt für reiche Exzentriker.

Nächster Halt Baden-Oos mit Übergang auf einen roten Triebwagen, wahrscheinlich ein VT 60 von der Offenburger Bw-Ast Baden-Baden, der nur sieben Minuten bis zum prächtigen Stadtbahnhof nach Baden-Baden braucht. Der Verkehr auf der kurzen Stichbahn – auch weil Baden-Baden Zentrum der französischen Armee und Sitz zahlreicher Verbindungsstellen ist – hat für die damalige Zeit eine unglaubliche Dichte – rund 50 Zugpaare, die praktisch an und von jedem Zug unmittelbaren Anschluss herstellen. Kurz nach Baden-Oos kommt uns der D 77 Basel-Frankfurt entgegen, eine beeindruckende Begegnung, wenn fast auf Griffweite dieser riesige schwarz-glänzende Leib der Einheitslok vorbeidonnert, der auf feinspeichigen alt-roten Rädern und von wirbelnden Stangen nach vorn getrieben wird. Ein flüchtiger Moment nur, aber von bleibendem Eindruck. In ein paar Stunden kommt hier auch der Rheingold durch, bringt exklusive Gäste in die badische Kurstadt. Wie gerne würde ich diese Szenerie beobachten - die blauen Wagen mit dem erhabenen Schriftzug "Deutsche Bundesbahn", die Damen und Herren der Gesellschaft, die schon wartenden Gepäckträger und, und, und ...

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In Bühl rauschen wir durch, aber wir erkennen noch gut, dass am Nachbarbahnsteig ein kurzes Züglein – anders kann man das gar nicht formulieren – der Bühlertalbahn nach Oberbühlertal steht. Und auch in Achern ist im Privatbahnhof gegenüber dem DB-Empfangsgebäude gerade ein Zug aus Ottenhöfen angekommen.

Jetzt machen wir uns langsam fertig, noch eine Viertelstunde bis Offenburg. Aber so schön es in unserem D 276 auch war (und so gerne ich noch bis Basel weitergefahren und dann auf meine heimatliche Wiesentalbahn umgestiegen wäre), so sehr freuen wir uns jetzt auf frische Luft, auf unsere Fahrt auf der Schwarzwaldbahn. Herzlich verabschieden wir uns von unserem nachsichtigen, gutmütigen Schlafwagenschaffner, bedenken ihn mit einem großzügigen Trinkgeld, das er fassungslos entgegennimmt. Morgen Mittag ist er wieder in Hamburg, dann kann mit Hilfe des Scheins seiner Frau und sich zu Heiligabend eine kleine Freude machen.

An den eisigen Griffstangen turnen wir die hohen Trittstufen hinunter zum niedrigen Bahnsteig. Jetzt Luft holen, den Kopf frei bekommen, Platz nachen für neue Erlebnisse. Schon rollt unser D 276 an, der gute Ostpreuße streckt den Kopf zum Fenster seines kleinen Abteils heraus, winkt. „Gute Reise!“, ruft er, wir winken zurück, dann ist schon der letzte Wagen vorbei. Die kräftigen Zylinderschläge unserer 03.10 werden leiser bis sie bald in der Ferne verhallen. Stille kehrt ein im verschneiten Offenburg, und auch wir verharren für einen Moment, genießen einfach nur noch.

„Auf geht´s Buam, pack mers.“ Wir streben dem schönen badischen Empfangsgebäude zu. In einer Stunde geht unser nächster Zug, Zeit genug vielleicht noch etwas Verpflegung zu besorgen. Brot, Käse, Wurst für ein Frühstück in einer Donnerbüchse auf der Schwarzwaldbahn. Wir freuen uns schon.

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11-mal bearbeitet. Zuletzt am 2010:06:05:14:56:08.

Re: Winter 1951 - Teil 2 (leider noch länger)

geschrieben von: Bäderbahn

Datum: 04.11.09 16:26

Wo gibt es die Fahrkarten?
Wäre gerne dabei. Einfach eine tolle Geschichte und da bin ich auch garnicht traurig darüber, dass sie so lang ist. Freue mich schon auf die Fortsetzung.

Bäderbahn

Leider? Bin überwältigt ...

geschrieben von: aps

Datum: 04.11.09 16:45

... das ist ja höchst wertvoll, könnte ein eigenes Büchlein sein.

Gruß aus dem Münsterland
Andreas

Mehr, mehr! - Und noch länger!

geschrieben von: rolf koestner

Datum: 04.11.09 17:31

Und auch von mir die Frage, wo gibt es die Fahrkarten?


Alles so plastisch und realistisch geschrieben. Mag daher kommen, dass ich diese Zeit so gerade eben, etwa 10 Jahre später, noch miterlebt habe. Das, und die alten Fotos aus dem HiFo und den Zeitschriften vor Augen, lassen ein reelles Bild in meinem Hirn entstehen.


Ich lechze schon nach der Schwarzwaldbahn!


Rolf Köstner

Man hat nicht richtig gelebt, wenn man nie in einem ICE gesessen hat, der in Hamm geteilt worden ist.


Ich bin ein Boomer!




1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2009:11:04:17:32:29.
Sehr schöner und interessanter Artikel.
Welchen Tunnel der Schwarzwaldbahn zeigt denn das Bild ganz unten?

Viele Grüße Lothar

[www.eisenbahn-tunnelportale.de]
Überaus lesenswerte, ganz prima gelungener Beitrag!

Vielen herzlichen Dank!

Mark

Brill58 schrieb:
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> Sehr schöner und interessanter Artikel.
> Welchen Tunnel der Schwarzwaldbahn zeigt denn das
> Bild ganz unten?

Könnte der Spärle-Tunnel-Nordportal mit dem Einfahrsignal von Niederwasser sein.
Hallo, alles wieder sehr gut geschrieben! Es lässt sich fast hautnah die damalige Zeit erleben... Aber eine klitzekleine Ungenaugkeit möchte ich denn doch monieren ;-) In Baden-Oos gab es 1951 garantiert noch keine roten Elektrotriebwagen, die Strecke zum Stadtbahnhof ist erst 1958 verdrahtet worden. Und seit 1949 war die Baden-Badener Straßenbahn bereits durch den O-Bus ersetzt worden, die kann es also auch nicht sein.

Viele Grüße,
Wahldresdner

--
Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten.

Re: Winter 1951 - Teil 2 (leider noch länger)

geschrieben von: bigboy

Datum: 04.11.09 19:43

Allein der Gedanke an einen DSG Speisewagen,
die Wurst-Brötchen, der Kaffee, das Ambiente... http://www.cosgan.de/images/midi/froehlich/p010.gif

Gruß aus Lübeck
Andreas

http://s14.directupload.net/images/120117/x26rem3u.png

Re: Winter 1951 - Teil 2 (leider noch länger)

geschrieben von: TransLog

Datum: 04.11.09 22:03

"...und noch ein Silberputzer in der Küche.“


Hallo,

herzlichen Dank. Wieder eine herrliche Reise in die Vergangenheit. Der D-Zug als eine Oase des Komforts, als das Land noch mit Armut und Kriegsfolgen rang ...


Gruß, Ulrich

A Wahnsinn!

geschrieben von: ehemaliger Nutzer

Datum: 04.11.09 22:35

Jetzt fühle ich mich so, als sässe ich gerade auf dem kalten Bahnsteig in Offenburg und wartete auch auf den warmen Anschlusszug über die Schwarzwaldbahn, egal, dass ich nicht weiss, wie weit wie damit fahren wollen.
Das Blöde ist nur, dass er erst in Deinem nächsten Beitrag kommt, und wer weiss, wann der kommt, lieber berre-mz!? Scheint also ein langer, kalter Aufenthalt zu werden ;-)

Einfach phantastisch, Deine Geschichte! Wie wär's mit einer etwa vierwöchigen Rundreise???

Gruss
Dieter

Wow, bitte mehr davon...

geschrieben von: 01 Fan

Datum: 04.11.09 23:38

Solche Geschichten koennte ich stundenlang lesen, also mehr davon.
Danke dass Du uns mitgenommen hast.

legendär - imaginär

geschrieben von: V. Klemm

Datum: 05.11.09 01:54

Vielen Dank für die (beiden) schönen Berichte! Treffend und wunderschön geschrieben!
Dazu zur Erläuterung die Scans - und fertig ist eine wunderschöne und sehr stimmige Zeitreise!

Gerne mehr davon.

vielen Dank dafür...

geschrieben von: FrankS

Datum: 05.11.09 11:38

.. freue mich schon auf die Weiterreise, wenn es in heimische Gefilde geht.
Gruß
Frank

So soll es sein!

geschrieben von: Olaf Ott

Datum: 05.11.09 22:11

Guten Abend!

Mit einem Glas Rotwein vor mir, habe ich auch diesen Reiseabschnitt sehr genossen.

Vielen Dank für diese schöne Geschichte!

Olaf Ott

Er steigt mir in die Nase . . .

geschrieben von: vauhundert

Datum: 05.11.09 22:55

der Duft von frisch gebrühtem Kaffee.

So wie es sein muß. Nichts aus der Maschine. Doppelt stark.
Allein für das Frühstück im Speisewagen würde ich die Reise mitmachen wollen.

Was es da aus dem Fenster alles zu sehen gab. . .

Oh, man . . .

Da könnte man glatt sofort losfahren. Ich möchte beim nächsten Teil auch mit von der Partie sein.

Auch wenn ich kein Mitglied im Rechenclub Pahlen-Pahlhude bin.
Immerhin kann ich mit den Zahlencodes noch etwas anfangen.

Herzlichen Dank und beste Grüße aus dem Bergischen

[www.vauhundert.de]
Preiswerte Dienstleistungen im Bereich spurgebundener Flurfördermittel aller Art und feinster Güte.
"Jetzt sind die guten alten Zeiten, nach denen wir uns in zehn Jahren zurücksehnen werden."(Peter Ustinov)____ P.S.: Ich kann ihm trotzdem nicht glauben;-)

Auf neudeutsch ...

geschrieben von: Montzenroute

Datum: 06.11.09 00:43

fällt mir dazu nur eines ein:

Karl-Ernst Maedel reloaded ...

Danke für diese wunderschöne Geschichte!

Joachim

DSG statt ISG - ziemlich "tricky",....

geschrieben von: Lothar Behlau

Datum: 06.11.09 10:33

.... wie Du das begründest, aber damals hätte das tatsächlich so ablaufen können, vor allem mit der Beschränkung bis Basel! Und daß Du den Begriff "Silberputzer" noch kennst, überrascht mich doch ein wenig: ich habe 1969/70 selbst ein paar Wochen als solcher gearbeitet, aber auch damals war schon ganz normaler Porzellan- und Edelstahl-Spül zu bewältigen, nur ein paar silberne Platten gehörten noch zum eher weniger genutzten Inventar.

Und ansonsten kann das Ganze gar nicht lang genug sein: als ehemaliger Science-Fiction-Fan ist mir die Zeitreise-Thematik sehr vertraut, und ich gäbe was drum....... Ach, Ihr wißt schon.

Lothar Behlau, Träumer

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