Gedanken zu Grenzen
Morgen, am 3. Oktober, werden sich viele Blicke nach Osten richten. Jene Grenze, die vielen Menschen als „Zonengrenze“, „Demarkationslinie“, „Eiserner Vorhang“, „Mauer“, „antiimperialistischer Schutzwall“ oder „Staatsgrenze West“ in schmerzlicher Erinnerung ist, wurde 1989 durchlässig und fiel vor 19 Jahren mit dem Beitritt der DDR weg. Bis dahin trennte diese Grenze 40 Jahre lang die Menschen. Anfangs mit Stacheldraht, Minenfeldern und Selbstschussanlagen, in späteren Jahren mit etwas sterilerem Ambiente in Form von Gitterzäunen und genormten Betonfertigteilen. Viele Menschen, die mit den Verhältnissen in der „Ostzone“ nicht leben wollten, sind beim Versuch, diese Grenze zu überwinden, getötet worden oder haben den gescheiterten Versuch mit Verletzungen und Inhaftierung bezahlen müssen. In meiner Wahrnehmung strahlte diese Grenze immer ein martialisches Bild aus………
Als ich dieses Bild zum ersten Mal sah, dachte ich spontan an die DDR-Grenze.
Tatsächlich ist es aber an der deutsch-niederländischen Grenze bei Rimburg, wenige Kilometer nördlich von Aachen und an der Bahnstrecke von Aachen nach Mönchengladbach entstanden.
Spätestens mit dem sog. „Schengener Abkommen“ sind hier seit 1986 die Staatsgrenzen zu durchlässigen Binnengrenzen geworden. Doch das war nicht immer so. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auch im Westen unseres Landes stark gesicherte Grenzen. Gerade die Grenzregion Aachen machte damit in den Nachkriegsjahren bis 1953 häufig Schlagzeilen.
Auch an der deutschen Westgrenze wurde geschossen. Zwischen 1946 und 1952 kamen nach einer offiziellen Statistik insgesamt 31 Personen im Raum Aachen an der „grünen Grenze“ durch Schusswaffengebrauch ums Leben. Zusätzlich gab es über 100 Schwerverletzte.
Hier handelt es sich jedoch nicht um Menschen, die Freiheit suchten und den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen entkommen wollten. Hier gab es auch keinen sog. „Schieß b e f e h l“.
Im Aachener Dreiländereck waren es Schmuggler, die starben. Vor allem südlich von Aachen, an der deutsch-belgischen Grenze, blühte der Schmuggel. Bevorzugtes Schmuggelgut war Kaffee. In der Bundesrepublik lagen etwa 10 DM Steuern auf einem Kilo Kaffee - in Belgien war er steuerfrei. Die gute Verdienstmöglichkeit beim Schmuggel und die Nöte der Nachkriegszeit verleiteten viele Menschen zu kleinen Nebengeschäften. Bahnlinien in grenznahe Orte, wie beispielsweise die Strecke Stolberg Hbf - Walheim - Schmithof, verzeichneten in jenen Jahren einen deutlichen Fahrgastzuwachs. In dieser Zeit wurden an manchen Tagen am Fahrkartenschalter des Stolberger Hauptbahnhofs über 200 Kinderfahrkarten nach dem kleinen Dorf Schmithof verkauft. Von der Endstation Schmithof bis zur belgischen Grenze waren es nur wenige hundert Meter Fussweg. Der hier verkehrende, oft mit Loks der BR 74 bespannte Personenzug wurde nicht ohne Grund im Volksmund spitzbübisch „Mokka-Expreß“ genannt.
Bei den Opfern handelte es sich häufig um Jugendliche, die den Schmuggel auch als Abenteuer oder Chance auf eine „schnelle Mark“ sahen. Und geschossen wurde auch, um Kleinschmuggler mit Bagatellmengen zu stoppen. Selbst dort, wo Schmuggler offensichtlich keine großen Warenmengen bei sich führten oder auch in Fällen, in denen die flüchtenden Schmuggler ihren Kaffee bereits abgeworfen hatten, kam es zum Schusswaffengebrauch mit tödlichen Folgen.
Die Gesetze der Bundesrepublik deckten dieses Vorgehen. § 11 der bundesdeutschen „Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch im Grenzdienst“ enthielt u.a. die Regelung: „Die Vollzugsbeamten k ö n n e n im Grenzdienst Schusswaffen auch gegen Personen gebrauchen, die sich der wiederholten Weisung zu halten … durch die Flucht zu entziehen versuchen“.
Dennoch stand die ethisch-moralische und auch die politische Frage im Raum, ob es gerechtfertigt ist, Tote in Kauf zu nehmen, um der Zollverwaltung und damit der Bundesrepublik lediglich Abgaben zu sichern.
Eine politische Antwort auf die Toten an der Westgrenze gab die Bundesregierung im Jahre 1953. Im August 1953 trat in der Bundesrepublik eine deutliche Senkung der Kaffeesteuer in Kraft, die den Schmuggel unlukrativ machte und den massenhaft betriebenen Kaffeeschmuggel beendete.
Das letzte Todesopfer war am 22. Februar 1964 in Lichtenbusch bei Aachen zu beklagen, als ein Arbeiter in einer Aktentasche auf dem Gepäckträger seines kleinen Mopeds 750 Gramm Kaffee, 100 Gramm Tee und 20 Eier über die Grenze schmuggeln wollte, an der Zollkontrolle Gas gab und durchzufahren versuchte.
So sah zeitgenössische Nachwuchswerbung des Bundesgrenzschutzes aus:
Im Westen setzte sich schon früh die Erkenntnis durch, dass ein gemeinsames Europa ohne störende Grenzen erstrebenswert sei. Auf dem Weg zur europäischen Gemeinschaft wurden die Grenzkontrollen zu den westlichen Nachbarländern deshalb schon frühzeitig mehr und mehr abgebaut und die krassen Zustände aus den wilden Zeiten der frühen Nachkriegsjahren bald überwunden.
Im Gegensatz dazu wurde die innerdeutsche Grenze von Osten her mehr und mehr gesichert und immer undurchlässiger. Umso bedeutsamer ist deshalb selbstverständlich der Erfolg, auch die innerdeutsche Grenze zu überwinden und die deutsche Teilung aufzuheben.
Gleichwohl lohnt es sich, an diesem Feiertag auch einmal den Blick auf die westdeutsche Vergangenheit zu richten und die Erfolge der Bonner Europapolitik zu beleuchten. Ob die in den 1970er Jahren eingeleitete Ostpolitik ebenso erfolgreich gewesen wäre, wenn es nicht zuvor bereits das Beispiel der erfolgreichen Entspannungspolitik im westlichen Europa gegeben hätte?
Mit Grüßen aus dem Grenzland
Roland Keller
edit: 1 Jahresangabe geändert, siehe unten
edit 2: am 12.11.2014 wurden beide Bilder wieder neu eingebunden
4-mal bearbeitet. Zuletzt am 2014:11:12:22:16:42.