Beginnen wollen wir den heutigen Teil mit einem sehr interessanten Artikel von Herrn Günter Bosse, dem langjährigen Bahnhofsvorsteher des Bahnhofs Badersleben. Ich verweise insbesondere auf den Abschnitte bezüglich der Schalteröffnungszeiten und der Monatseinnahmen in Dedeleben. Für meine Generation ist das Geschilderte völlig unvorstellbar.
Mit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen am 11. April 1945 in unser Territorium wurde der Zugbetrieb zunächst eingestellt. Ab dem 18. April 1945 galt ein Notfahrplan für die Strecke Nienhagen – Jerxheim. Wie sich Zeitzeugen erinnern, wurde der Fahrplan nur unregelmäßig eingehalten. Als die Sowjetarmee am 02. Juli 1945 von den Amerikanern das Gebiet übernahm, hatte die Grenzziehung stattgefunden. Ost (sowjetische Zone) und West (Britische Zone) waren getrennt. Der Zugverkehr zwischen Dedeleben und Jerxheim wurde sofort unterbunden. Was sich danach abspielte wäre ohne die Eisenbahn kaum möglich gewesen. Ohne sie hätte es keine „Völkerwanderung“ durch die Orte im grenznahen Raum, keine Grenzführer und anderseits auch kein so dichtes Netz von Russenposten, Hilfspolizisten, Grenzpolizei, Zoll und Bundesgrenzschutz gegeben. Nur die Eisenbahn war in der Lage, die Menschenmassen in Richtung Grenze heranzuführen oder sie von dort wieder abzuholen. Die Grenzgänger teilten sich. Aus Chemnitz, Leipzig, Halle, um nur einige Regionen zu nennen, reiste man über Magdeburg oder Halberstadt an. Wer über Magdeburg kam verließ meist in Oschersleben den Zug, um über Gunsleben oder Hötensleben die Grenze zu überwinden. Über Halberstadt bot sich Dedeleben geradezu an. Dann stand immer die Frage, wo steigen wir aus? Schon in Anderbeck oder doch lieber in Badersleben, vielleicht in Vogelsdorf? Die Mutigen bis Dedeleben! Die Grenzgänger wichen immer dorthin aus, wo zurzeit die wenigsten Kontrollen zu erwarten waren. Die Informationen von „Mund zu Mund“ klappten bestens. „Dicke Luft“ besagte: vermutlich strenge Kontrollen. Auch ist bekannt, dass sich Grenzschützer und Grenzgänger ein regelrechtes Katz- und Maus-Spiel lieferten. Die meisten Bewegungen hat es in den frühen Morgenstunden für die die von Westen kamen und in den Abendstunden für die die in den Westen wollten gegeben.
Im Schutz der Dunkelheit fand man es eben sicherer. Die Beweggründe in den Westen zu gehen waren unterschiedlich. Manche wollten für immer im Westen bleiben, die anderen waren die kleinen „Hamsterer“, die Schwarzhändler und die großen Schieber. Es gab natürlich auch familiäre Gründe. Die verwandtschaftlichen Beziehungen waren schon ausgeprägt. So bin ich selbst am 31. März 1948 mit meinen Eltern um die am Kiebitzdamm (Straße von Dedeleben nach Jerxheim) in die Straße eingerammten und hochgestellten Eisenbahnstahlschwellen herumgegangen, um an der Beerdigung meiner Großmutter im nahe gelegenen Söllingen teilzunehmen. Der am Ortsausgang von Dedeleben stehende russische Posten unterhielt sich mit einer jungen Frau und wir gingen einfach am anderen Ende des geschlossenen Schlagbaums herum.
Für die Eisenbahner, die überwiegend zu den Grenzgängern hielten, war der Dienst nicht immer einfach. Wenn der Fahrdienstleiter, zugleich auch Fahrkartenverkäufer, auf dem Bahnhof Dedeleben um 03:30 Uhr seinen Dienst begann und die Bahnhofshalle öffnete, war diese im Handumdrehen voll. Jeder brauchte eine Fahrkarte und den Stempel (auf der Rückseite der Fahrkarte) „Reisegenehmigung erteilt“, dieser war ihnen das Wichtigste. Die Sinnhaftigkeit dieses Stempels, in Gunsleben und Hötensleben gab man dafür kleine Zettel aus, habe ich bis heute noch nicht so richtig begriffen. Meine Zeitzeugen erläuterten es so: Wer unterwegs kontrolliert wurde und den Stempel nicht vorweisen konnte, soll von der Fahrt ausgeschlossen worden sein. Einen Vorteil hatte die Sache, keiner wollte „schwarz“ fahren! Der Andrang am Schalter war so groß, dass oft „rund“ gerechnet wurde.
Als ich 1956 den Bahnhof Dedeleben übernommen habe, beschäftigte ich mich auch mit Statistiken und Kassenbüchern. Die Zahl der verkauften Fahrkarten und abgefertigten Personen ist mir nicht mehr in Erinnerung, wohl aber die Monatseinnahmen im Fahrkartenverkauf. Immer über 90.000 Mark, Spitze 126.500 Mark. Zum Vergleich: 1 Fahrkarte von Dedeleben mach Leipzig kostete 13,40 Mark. Da standen sie nun in der Bahnhofshalle und auf dem Bahnsteig, dicht gedrängt mit ihren schweren Rucksäcken, Taschen, genähten Säcken und anderen Transportbehältern. Aus den Taschen und ähnlichem trieft oft die Heringslake, läuft an der Kleidung herunter auf die Fliesen. Der unverwechselbare Geruch zeugt davon, dass die Grenzgänger überwiegend mit Heringen beladen sind. Aus Bremen, Bremerhaven und Cuxhaven haben sie den Fisch geholt. Ein kräftiger „Schlepper“ soll 4 – 8 Eimer transportiert haben. In einem Eimer waren bis zu 50 Heringe. Heringe gab es kaum im Osten.
Dieser Geruch hat sich fortgesetzt in den Abteilen der Züge. Auf der Dedelebener Strecke fuhren zu dieser Zeit überwiegend C-3 Wagen, das heißt, es handelt sich um einen Dritter-Klassewagen mit 2 gebremsten Achsen und einer Laufachse. Der Schaffner konnte während der Fahrt außen von einem Abteil zum nächsten Abteil steigen, ohne sich in den ständig überfüllten und stinkenden Zügen hindurch zu zwängen. Oft waren die Wagen kalt, unbeleuchtet, die Fenster nur mit Pappe beschlagen. Wurde der Zug mal geheizt kam es auch vor, dass wegen der schlechten Kohle der Dampfdruck nicht ausreichte um den Zug weiter zu befördern. Ein unfreiwilliger Halt musste eingelegt werden. Dampf kochen nannte man das. Wenn ich an den Herbst 1947 zurückdenke, erinnere ich mich an meine Schwester und deren Kollegin. Beide hatten Beziehungen zu Christbaumschmuck aus dem Erzgebirge. Die Handwerker des Betriebes bauten den beiden drei Stellagen mit Tragegurten, eine gleich noch für meine Mutter. Da rein legten sie jeweils 10 Kartons mit Christbaumschmuck und stiegen damit gegen 18:00 Uhr in den Zug nach Dedeleben ein. Aber schon zwischen Dedeleben und Jerxheim wurden sie von zwei russischen Soldaten festgenommen. Es war eine kalte Nacht. Auf den Feldern lag noch Kartoffelkraut. Das trugen sie zusammen und zündeten es an. Für die Soldaten und die drei Frauen war es dann ganz gemütlich. Gegen 4:00 Uhr ließen sie die Frauen frei. In Schöningen wurde der Christbaumschmuck verkauft. Dann fuhr man über Jerxheim nach Bremerhaven. Was holten sie wohl? Es gab aber nicht nur Heringe zu transportieren. Als ich 1956 vom Bahnhof Nienhagen zum Bahnhof Dedeleben versetzt wurde, machte mich mein Kollege T. darauf aufmerksam, einmal im Keller des Bahnhofs Dedeleben nachzusehen, ob der Handkarren noch da steht. Dann kam die Erklärung: Mit dem Karren haben wir etliche Ochsen über die Grenze gebracht, natürlich geschlachtet. Das Fleisch hatte man in Reisekörben und Kiepen verpackt, in den Packwagen des Personenzuges eingeladen und mit dem stabilen Einachskarren vom Bahnhof Dedeleben aus über die Grenze gebracht. Russische Offiziere waren einbezogen und erhielten jedes Mal vier Flaschen selbst gebrannten Schnaps. Den Karren habe ich mir noch ansehen können. Ein älterer Kollege erläuterte mir im Plattdeutsch nach Jerxheimer Art diese Schiebereien. Über eine ganz traurige Begebenheit möchte ich lieber erst im Januar berichten.
Günter Bosse, Badersleben
Bevor wir uns auf die Strecke begeben, zunächst die bekannte Übersichtskarte der RBD Hannover
Fahrplanmäßig machen wir nun einen Sprung in den Sommerfahrplan 1981. Das Zugangebote war insbesondere Werktags ausgeweitet worden. Insbesondere der täglich verkehrende „Nachtzug“ nach Dedeleben finde ich interessant. Hat jemand eine Ahnung, welche Zielgruppe damit erschlossen werden sollte?
Fahrplan DR Sommer 1981
Kommen wir also nun zum betrieblich nicht sehr interessanten Bahnhof Dingelstedt. Andreas Stüber stellte dankenswerter Weise auch hier einen Gleisplan aus dem Jahre 1976 zur Verfügung.
Gleisplan Dingelstedt 1976; Sammlung Andreas Stüber
Bahnhof Dingelstedt 2005
Unbekannte Ferkeltaxe an einem unbekannten Tag in Dingelstedt; Sammlung Gemeinde Dedeleben
Bahnhof Dingelstedt 2005
Bahnhof Dingelstedt 2005
Auch der Bahnhof Anderbeck wurde bereits relativ früh in einen HP umgewandelt. Der GV spielte hier auch früher kaum eine Rolle, allerdings wurde der Bahnhof betrieblich für Zugkreuzungen benötigt. Andreas Stüber stellte auch hier einen Gleisplan aus dem Jahre 1976 zur Verfügung.
Gleisplan Anderbeck 1976; Sammlung Andreas Stüber
Bahnhof Anderbeck 2005
Undatierte Aufnahme des Bahnhofs Anderbeck; Sammlung Gemeinde Dedeleben
Bahnhof Anderbeck 2005
Unbekannte Ferkeltaxe an einem unbekannten Tag in Anderbeck; Sammlung Gemeinde Dedeleben
Bahnhof Anderbeck 2005
Für Volker Blees war bei seinem Besuch an der Strecke natürlich auch ein Foto vom Posten A in Anderbeck unerlässlich
771 054 – 4 fährt in Richtung Dedeleben aus Anderbeck aus; Foto Volker Blees
Fünf Jahre nach der Stillegung könnte der Posten vermutlich ohne Probleme wieder in Betrieb genommen werden.
Posten A in Anderbeck 2005
Posten A in Anderbeck; Sammlung Gemeinde Dedeleben
Posten A in Anderbeck 2005
Soviel für heute. Bis zum nächsten Teil
Carsten
3-mal bearbeitet. Zuletzt am 2009:01:28:17:56:15.