„Ende Januar ist Schluß!“ So hieß es im Herbst 1972 von offizieller Seite zu den harten Einsätzen der Kasseler Öl-44er auf der langen Rampe von Paderborn hinauf ins Eggegebirge. Für uns hartgesottene 44er- und Sound-Fans war es also ein „Muß“, im Januar nochmals eine Nacht lang in den Wäldern rund um Altenbeken herumzustreunen. Übersetzt hieß das: Uns viertelstundenlange Wummer-Soli im Dreivierteltakt auf die Ohren hämmern lassen, die Augen nach den spärlichen drei Lichtern der Kasseler Lärmquellen suchend in der Dunkelheit ausglotzen und schließlich, bei der Vorbeifahrt der schwarzen Kolosse im Kriechgang, den heißen, süßlich-ölig riechenden Odem dieser Kraft-zitternden Ur-Viecher zu inhalieren. Diesmal waren nicht schöne Fotos das Maß der Dinge. Es ging vielmehr darum, die intensiven Eindrücke tief in die Sinne von Auge, Ohr und Nase einzubrennen, für die öde Zukunft „ohne Altenbeken“, die jetzt wohl unaufhaltsam war. Was uns, um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen, dann auch gelungen ist!
„Wir“ - das waren unverbesserliche Gesellen wie Fritz Wolff, Dieter Kloth, der leider schon verstorben ist, Herbert Vaupel, Mike Grieves und Olaf Ott, mit mir, um nur einige zu nennen. Einer mit mehr Flausen im Kopf als der andere.
Treffpunkt der Gestalten im aufgeplusterten Outdoor-Dress, die meisten von weit her angereist, war am frostig-trüben Freitag Nachmittag des 26. Januar 1973 der zugige Bahnsteig 101 im Bahnhof Altenbeken. Zur Begrüßung stimmte uns 043 681 gleich mal mit tosender Durchfahrt vor Dg 6719 auf die Ereignisse der Nacht ein!
Wie sollten wir nun die nächtliche Exkursion gestalten? Wieder einmal Züge einfach in der Vorbeifahrt erleben? Vielleicht auch noch auf diesem nüchternen Bahnsteig, mit Störgeräuschen von der Post-Verladung und Lautsprecherdurchsagen?? Nein, heute nacht sollten unsere Erlebnisse mit den Dreischlägern drastisch intensiviert werden. Wir mußten irgendwie auf Augenhöhe mit den fahrenden Loks bleiben! Doch wie? – Der Schlüssel zur Lösung war schnell gefunden: die einsamen Forst-, Feld- oder Bahndienstwege neben den Gleisen! Hier konnten wir an besonders steilen Abschnitten der Rampe mit dem Auto neben den bebenden Jumbos herzockeln, auf Zylinderhöhe, so weit es im Finster der Nacht möglich war. „Zylinderverfolgung“ nannten wir das.
Jetzt erstmal hinunter zum Dunetal-Viadukt, wo wir Dg 6769 mit der Ottberger 044 376 erwarteten. Da kam er, fast in Schrittgeschwindigkeit! Belichtungswerte zum Verzweifeln, doch alleine das Erleben zählte:
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…und an den Jumbo gehängt:
zu Fuß!! Wir joggten einfach neben dem Zylinder her, bestimmt 500 Meter, bis zur alten Blockstelle Schierenberg. Ein Ohrenschmaus!
Den nächsten Zug, einen Dg mit 043 364, begleiteten wir per Auto auf dem holperigen Bahn-Dienstweg, der von Bk Schierenberg, km 114,5, über fast einen Kilometer dicht neben dem Schotterbett verlief, bis km 113,4, kurz vor dem Einfahrt-Vorsignal von Altenbeken. Minutenlang im Schritt-Tempo nur einen Meter neben dem bebenden Außenzylinder her! Was sich später unsere Töchter und Söhne in ballerigen Discos auf die Ohren geben mochten, zogen wir uns hier in den einsamen Egge-Wäldern ´rein. Hier wie dort: Dröhnende Rhythmen! Im Unterschied zu den Disco-Nächten aber: Zug für Zug unvergesslich.
Zurück zur 043 364. Hier eine Aufnahme von der gleichen Lok genau an der gleichen Stelle bei km 113,4, allerdings knapp viereinhalb Jahre vorher. Auch am 26.08.1967 schleppte 44 1364 (später 043 364) ihren Dg 6734 im Kriechtempo die lange Gerade vom Bk Schierenberg herauf; man erkennt gut den 1973 für die „Zylinderverfolgung“ benutzten Bahndienstweg entlang der Schiene:
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Dort, wo der Bahndienstweg die Trasse verlässt, geht er in einen geteerten Feldweg über; wir sehen die Bake zum Einfahrt-Vorsignal Altenbeken und links von der Strecke die Rückseite des Vorsignals Bk Schierenberg:
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Zurück zur Szenerie am spätereren Nachmittag des 26.01.1973. Nach der Begleitfahrt ab Bk Schierenberg fuhren wir nun an dem kleinen Feldweg-Durchlaß ca. 500m vor dem Viadukt schnell hinunter auf die Landstraße, gewannen spielend Abstand vom schwerfälligen Dg, zügig durch den Ort Altenbeken zur weiteren Steigung Richtung Buke. Von hier, bei km 113,0 (Kilometrierung Altenbeken-Warburg) in Höhe des „Klosters“, hörten wir der 043 364 zu, wie sie durch die weite Bahnhofskurve herandonnerte, und machten die letzten Fotos des Tages:
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(Auf die längst eingetretene Verjährung eventueller Ordnungswidrigkeiten wird vorsorglich freundlichst hingewiesen.)
… und ´rein in die Autos, über den landwirtschaftlichen Weg ein paar hundert Meter neben dem tobenden Öl-Jumbo her!
Aauuaaa !!!
(8; Scan, Foto Olaf Ott / 9)
Wenn Quatschköppe zusammen sind… (Gestellte Fotos.)
Während 043 364 noch oben im Wald bei Buke wummerte und ihre gewaltige Dampf- und Qualmwolke hoch in den dämmerigen Januar-Himmel blies, kehrten wir um, wieder hinunter zur ehemaligen Blockstelle Schierenberg, wo wir auf dem Bahndienstweg den nächsten Kasseler Öl-Jumbo, die 043 336, mit einem Dg „abholten“: Minutenlange dröhnende 1-km-Zylinderverfolgung bis zum Vorsignal der Einfahrt Altenbeken!
Die weiteren Züge und die phasenweise enge Zugfolge des anbrechenden Abends und der langen Nacht könnt ihr nachstehend meinem „Fahrtbericht“ entnehmen, ebenso wie das Mißgeschick, das unserem „44er-Guru“ Fritz Wolff gegen 2 Uhr nachts mit seinem unerzogenen VW-Käfer widerfuhr. - Abkürzungen: Alk=Altenbeken, Sbg=Bk Schierenberg, Ksl=Kassel, Pad=Paderborn
(Scan 1)
In Zugpausen war die Kneipe im Altenbekener Bahnhofshotel unser Stammquartier. Hier wärmten wir uns auf, bevor wir wieder in die eiskalte Januar-Nacht ausschwärmen mussten, weil der beim Fahrdienstleiter abgepinnte Fahrplan den nächsten schweren Dg von Paderborn herauf vorsah. Und nachdem der genervte Wirt schließlich die letzten Einheimischen zum Heimschlurfen überredet und rasselnd die Rollläden heruntergelassen hatte, blieben uns für den Rest der langen Nacht nur noch die studentischen Karossen als Wartestand. Doch halb so schlimm: Zu viert im engen, HB-, Stuyvesant- oder Attika-verqualmten R4, Kadett oder VW-Käfer konnte ja auch niemand erfrieren! Und notfalls konnten wir uns ja immer noch etwa im Lokschuppen von Altenbeken an den rotglühenden „Kokskörben“ zwischen den zur Nacht abgestellten Ottberger Dampfern aufwärmen.
Schließlich dämmerte der Samstag, 27. Januar 1973, herauf - heute genau vor 35 Jahren. Die lange Nacht hatten wir müde, aber erfüllt vom Erlebten und ohne Gehörschäden überstanden. Handfestes Frühstück in der Altenbekener Kantine, unverdrossen noch eine „Zylinderverfolgung“ ab Block Schierenberg mit einer Ottberger 044. Und dann nahm am späteren Vormittag unten in Paderborn die Abschiedsvorstellung der Kasseler Öl-Jumbos ihren Anlauf - mit einer Veranstaltung ganz neuer Art, die der Eisenbahn-Kurier organisiert hatte: einer Güterzugmitfahrt im D-Zug-Wagen, der hinter der Lok eingestellt wurde! Auf Tuchfühlung mit der Öl-glänzenden Tenderrückwand der Kasseler 043 121 ging’s mit dem 1122 t-schweren Dg 6721 von Paderborn nach Kassel. 59 Minuten benötigte die Fuhre, um die ca. 30 km lange Rampe von Paderborn bis Buke zu erklimmen: Eine Stunde lang betörendes, fast ohrenbetäubendes Donnern des Öl-Jumbos! Näheres lest ihr in meinem weiter unten eingescannten „Mitfahr-Protokoll“. Doch zunächst noch ein paar grenzwertige Fotos von der Hinfahrt:
043 121 rangiert in Paderborn den D-Zug-Wagen und einen LÜ-Wagen vom Bahnsteig im Hbf an Dg 6721; einige Fans haben schon „ihre Fenster“ besetzt, andere laufen noch auf den Gleisen herum:
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Gegen 11 Uhr kamen 044 064 und 044 442 Lz aus ihrer Heimat Hamm nach Paderborn herein:
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Um 11.24 Uhr ging das Ausfahrtsignal auf „frei!“ und unsere 043 121 wummerte los. Anderthalb Stunden kräftige Ohren-Massage und eiskalte Nasenspitzen am offenen Fenster, mit kurzer außer-Plan-Unterbrechung in Buke hinauf zum Scheitelpunkt in Neuenheerse! Keine Fotos, nur genüssliches Betanken der Sinne…
Nach Bezwingen des Eggegebirges, in Willebadessen, mußte der „EK-Güterzug“ Dg 6721 wegen Überholung rechts ´raus:
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112 503 vom Bw Dortmund-Bbf rauschte mit D 453 Mönchengladbach-Leipzig vorbei, der ab Bebra als D 197 noch mit einer oder gar zwei Erfurter Öl-01.5 bespannt werden sollte (siehe hier: [
drehscheibe-online.ist-im-web.de] ):
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Für die Detailisten unter euch nachstehend mein „Mitfahr-Protokoll“. Der Vergleich der Fahrzeiten nach Kassel an jenem 27.01.1973 mit denen, die ich knapp vier Jahre zuvor auf der Kasseler 043 440 vor dem ähnlich schweren Dg 6712 notiert habe, ergibt fast völlige Übereinstimmung. Bis Buke, wo der EK-Güterzug eine Pause zum Wasserpumpen einlegen musste. - Zurück ab Kassel ging’s hinter 043 681 mit Dg 6704 in den Abend hinein. Das „Protokoll“ erzählt auch von der fast dramatischen Dampfmangel-Situation der 043 681 wegen schadhaftem Feuerschirm. Sie versetzte schließlich unmittelbar vor dem Brechpunkt in der Einfahrt von Neuenheerse, als die Fuhre kaum mehr Schrittgeschwindigkeit hatte, nicht nur den Lokführer H.V. aus B. in höchste Anspannung, sondern ließ auch die Mitfahrer im D-Zug-Wagen hinter der Lok an den offenen Fenstern den Atem anhalten: Nur ein Ansatz des Jumbos zum Schleudern – und der grenzlastige Zug hätte unweigerlich für lange Minuten in der Einfahrt gestanden! Eiserne Nerven, Fingerspitzengefühl an Regler und Steuerung: Der Schleuderer blieb aus, wir zogen in Zeitlupe ins rettende Ausweichgleis von Neuenheerse.
(Scan 2)
Am darauffolgenden Tag, dem Sonntag, 28.01.1973, endete der „große“ Kasseler Umlaufplan. Damit kamen keine 043 mehr nach Hamm. - „Aus“ für den Dampfbetrieb auf der Altenbekener Rampe? Nein, entgegen allen Unkenrufen noch immer nicht. Es blieben noch 2 Zugpaare für die Kasseler Öler über die große Altenbekener Rampe nach/von Paderborn:
• Ng 16796 (w) Kassel Rbf ab 18.26 Uhr, Paderborn 21.12 Uhr an / Ng 16791 (w außer nS) Pad ab 01.03 Uhr, Ksl an 05.01 Uhr (sonntags Lz nach Kassel oder Verbleib in Pad bis Montag -> Plan 2?); und
• Dg 6754 (tgl auß nS) Ksl ab 02.26 Uhr, Pad an 04.40 Uhr / Ng 16797 (w auß nS) Pad ab 13.17 Uhr, Ksl an 16.47 Uhr.
Dieser „kleine“ Kasseler Plan wurde bis zum Fahrplanwechsel 1972/73 am 02.06.1973 gefahren. Die Plan-Einsätze der kohlegefeuerten 44ern aus Ottbergen und Hamm auf der Altenbekener Rampe blieben zunächst sogar ungekürzt. Selbst das Bw Paderborn, das an den Personal-Einsätzen auf der Rampe ohnehin einen guten Anteil hatte, mischte noch mit eigenen Maschinen mit und fuhr Sonderdienste auf der Rampe. Die letzten 44er verließen das Bw Paderborn erst im Juni: 044 067 (Schürze), 210, 389, 427 und 434 (Schürze), alle nach Ottbergen.
Mit dem 2. Juni 1973, der auf einen Schlag in so vielen Bereichen der DB das „Dampf-Aus“ brachte, kam dann auch auf der Altenbekener Rampe der große Schnitt: Nun endeten sowohl die restlichen Einsätze der Kasseler Öl-Jumbos als auch alle Plan-Einsätze der kohlegefeuerten 044er. Dennoch – „tot“ war König Dampf noch immer nicht: Denn das Bw Ottbergen fuhr weiterhin einzelne Sonderdienste nach und ab Paderborn – noch ganze drei Jahre lang! Erst zum Fahrplanwechsel Ende Mai 1976 gingen auch diese Leistungen auf Ellok und Diesel über und es wurde überhaupt der gesamte 044er-Einsatz in Ottbergen eingestellt. – Fotografisch sei dies hier im HiFo einmal einem gesonderten Thema „Rest-Dampf auf der Altenbekener Rampe“, später, vorbehalten.
So, auch ihr habt’s geschafft: Danke für euer geduldiges Mitlesen, soweit ihr bis hierher „drangeblieben“ seid. Und besonderer Dank an Olaf Ott und seine „Zulieferer“ für die Informationen über die letzten Plan-Einsätze der 043er und 044er auf der großen Rampe!
Ich wünsche allerseits eine gute Woche – und kommt gut in die heiße Phase von Fasching und Karneval! Schöne Grüße aus Aachen –
Reinhard Gumbert